titel_alle_1987
titel_1987
titel_pe
1987_baende_1

1987 erschütterte der Tod des CDU-Politikers und schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel die Bundesrepublik. Die offizielle Diagnose lautete “Selbstmord”, jedoch bleiben bis auf den heutigen Tag Zweifel daran. Barschel hatte im Wahlkampf versucht, das Ansehen seines populären SPD-Gegenkandidaten Björn Engholm mit kriminellen Methoden zu schädigen. Später kam heraus, dass Engholm ebenfalls mit unlauteren Mitteln gearbeitet hatte, wenn auch nicht im selben Ausmaß. Engholm, inzwischen Bundesvorsitzender und aussichtsreicher Kanzlerkandidat der SPD, musste deshalb 1993 von allen politischen Ämtern zurücktreten. Barschel war wohl eine der auffälligsten Personen der bundesrepublikanischen Politik. Monate vor dem angeblichen “Selbstmord” hatte er bereits einen Flugzeugabsturz überlebt – als einziger der vier Passagiere.

International gab es “Tauwetter”. Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichneten einen Abrüstungsvertrag. Gorbatschow erreichte damit einen großen politischen Erfolg. Im Vorfeld war es zu einer Ansprache von Reagan an das sowjetische Volk gekommen, die am 1. Januar von Radio Moskau ausgestrahlt wurde – ein nur wenige Jahre vorher absolut undenkbarer Vorgang. In diese Stimmung passte auch, dass die Amerikanerin Lynne Cox am 7. August die Beringstraße zwischen Alaska und einer fast 5 km entfernten russischen Insel durchschwamm. Das Salzwasser war - 2° kalt, also praktisch “flüssiges Eis”, wie die eigentlich unerschrockene Sportlerin entsetzt feststellen musste.

Die schönsten Bücher der Bundesrepublik Deutschland 1987
1987_auswahlband_seiten

Der untere Teil der drei Seiten wurde jeweils ausgeblendet.

Die schönsten Bücher
der Bundesrepublik Deutschland 1987

Seit 1984 wechselte jährlich der Designer des Kataloges. Damit einher ging eine jeweilige Neugestaltung. Änderten sich zunächst nur Kleinigkeiten, versuchten die Gestalter zunehmend, tiefgehendere Änderungen vorzunehmen. Es war auch die Zeit, als das Wort „Innovation” aufkam und immer schneller seine Kreise zog.

Jedenfalls konnte dieser Wettbewerb der Gestalter zu sehr schönen und interessanten Ergebnissen führen. Manchmal wurde der Katalog aber auch zum Experimentierfeld für missratene Ideen.

1987 war es eine Mischung von beidem. Der Umschlag mit dem halbtransparenten, 240 g schweren Papier, durch das man die Liste der Bücher durchschimmern sah, war schon sehr chic. Leider erreichte die Seitengestaltung – offenbar von einem anderen Designbüro als dem für Einband und Umschlag zuständigen gestaltet – diesen hohen Maßstab nicht. Insbesondere wirkten die um jede Abbildung gezogenen fetten grünen Rahmen, die irgendwie Farbe und Modernität ausdrücken sollten, an sich schon unpassend, noch mehr aber im Komplementärkontrast zu der rötlichen Umschlaggestaltung.

Im ersten Vorwort (es wurden jetzt wieder mehr, nachdem dieser ungute Trend schon gestoppt schien) erzählt Wulf D. von Lucius die von der Stiftung Buchkunst immer wieder verbreitete Legende, im Wettbewerb gehe es um „vorbildlich Gestaltetes aus der Normalproduktion“ (S. VII). Sieht man sich die Einzelhandelspreise an, kann das nicht ernst gemeint gewesen sein oder Herr Lucius kannte seinen eigenen Wettbewerb nicht. Hier Preise von prämierten Titel aus der „Normalproduktion” des Jahres 1987:

120 DM, 125 DM, 128 DM, 148 DM, 150 DM, 160 DM, 168 DM, 298 DM, 320 DM (Auflage 120), 498 DM, 580 DM (Auflage 150), 2200 DM (!; Auflage 175). Zahlreiche weitere Titel lagen im hohen zweistelligen DM-Bereich.

Mit einigen der genannten Preise waren aufwendig illustrierte Fachbücher aus dem Bereich der Medizin auf den Markt gebracht worden, die feste Abnehmer an den Universitäten hatten, aber vor allem bei den teils extrem teuren, „erlesenen” Literatur- und Kunstbänden zeigte sich doch, welche Insider-Kreise der „Kunstavantgarde” in der Stiftung Buchkunst maßgeblich waren.

Die Stiftung versuchte unterdessen, ihr Instrumentarium immer weiter zu differenzieren. Nachdem schon seit 1984 aus den prämierten Büchern von einer eigenen Jury nochmals die als „allerbesten” angesehenen drei Titel ausgewählt und mit hohen Geldpreisen dotiert wurden, kamen jetzt noch „Lobende Anerkennungen” hinzu, mit denen man vor allem „junge Gestalter” fördern wollte, von denen man sich wohl besonders „kreative” Lösungen erwartete, deren Ergebnisse aber noch „gravierende (technische) Mängel” (sic) hätten.

Eigentlich hatten der Jury diese Anerkennungen schon 1986 zur Verfügung gestanden, damals seien aber solche „schlagenden Beispiele nicht vorhanden” gewesen, hingegen 1987 gleich 11 – wer soll sowas glauben? Es war wohl eher die zum großen Teil neu zusammengesetzte, nun andere Maßstäbe anlegende Jury.

Von den 11 „Lobenden Anerkennungen” waren 6 wieder im 3-stelligen Preisbereich (bis 480 DM), dennoch ergab sich für den Chronisten die willkommene Möglichkeit, aus einem erweiterten Repertoire zu schöpfen. (Wie schön wäre das auch in früheren Jahrgängen gewesen.) Gerne hätte man gewusst, woran genau es gefehlt hatte, in die Hauptliste aufgenommen zu werden. Dieses Wissen behielt die Jury aber für sich. Mehr dazu unten.

Man fragt sich auch, in welchem Zustand die restlichen eingesandten, völlig ausgesonderten Bücher waren, wenn selbst die mit „Lobenden Anerkennungen” versehenen noch „gravierende Mängel” hatten. Vielleicht nur lose Blätter? Je mehr man versuchte, den Wettbewerb der „schönsten deutschen Bücher” zu ergründen, desto rätselhafter wurde er.

In der Art von Büchern, die zunächst nur unter die „Lobenden Anerkennungen” fielen, sollte jedenfalls die Zukunft des Wettbewerbs liegen. Mehr dazu nächstes Jahr.

Erwähnenswert ist noch, dass als Zielgruppe für den Wettbewerb ausdrücklich Buchgestalter und Sortimenter (Großhandel) genannt werden.

Im zweiten Vorwort des Geschäftsführers der Stiftung Buchkunst und „Moderators des Wettbewerbes”, Wolfgang Rasch, erfährt man, dass 1987 exakt 50 Auszeichnungen (diese Zahl sollte lange nicht mehr erreicht werden) aus 641 Einsendungen vorgenommen wurden. Weitere Informationen über irgendwelche Trends aus der Welt der Buchgestaltung und den damit verbundenen Technologien und Künsten erfährt man leider nicht mehr. Man vermisst da bei aller Kritik an Einzelpunkten die Expertise von Hans Peter Willberg aus früheren Jahrgängen.

Wie alle paar Jahre gab es einmal wieder eine ausführlichere Beschreibung der Arbeit der Jury mit einer Fotodokumentation. Hier sieht man hauptsächlich Herren (viel weniger auch Damen), meistens mit gewichtigen und bedeutungsvollen Gesichtern in Büchern blättern, diskutieren und Referenten zuhören. Denn Ziel der „Schnappschüsse” war es, „die Ernsthaftigkeit und die Konzentration der Juroren zu dokumentieren” (S. XI).

Bereits 1986 war eine neue „Check-Liste” für die Juroren mit der Begründung  angekündigt worden, der seit 1981 verwendete Bewertungsbogen (wie es damals noch hieß) sei zu unübersichtlich geworden (S. IX). Es seien „zu viele Fragen geworden, die in ihrer Kompliziertheit oft nicht mehr (sic) verstanden wurden”. Waren sie jemals verstanden worden? So viele Jahre waren ja seit 1981 nicht vergangen. Der Chronist hatte damals schon verwundert darauf hingewiesen, dass von den „76 detaillierten Kriterien” (Katalog 1981, S. 28) alleine auf die Bindung 22 Kriterien entfielen.

Interessant war diesmal die Teilnahme eines Gastjurors aus der DDR: Gert Wunderlich. Toll wäre hier zum Beispiel ein Interview mit Wunderlich gewesen mit einigen Fragen zur Buchproduktion der DDR im Vergleich zur BRD und auch zu den Unterschieden der beiden Wettbewerbe der „schönsten deutschen Bücher”. Leider eine verpasste Gelegenheit.

Stattdessen wurde als drittes Vorwort eine lange „Festansprache” des „Herrn Ministerialrates Dr. Hartmut Vogel, Bundesministerium des Innern, Bonn” abgedruckt, der um das Motto „Wir leben in einer Kulturgesellschaft“ herum seinem ihm bei solch einem Thema bestimmt sehr wohlgesonnen Publikum eine mit salbungsvollen Worten versehene Rede vortrug.

Auf die ausgewählten Bücher soll nur ein kurzer Blick geworfen werden.

Der viele Auflagen, Übersetzungen und Betrachtungen in der Sekundärliteratur erfahrene Roman „Mogadischu Fensterplatz” von Friedrich Christian „F. C.” Delius bewies, wie sehr sich die intellektuelle Linke immer noch mit dem RAF-Trauma und dem von ihr so gesehenen „Deutschen Herbst” herumschlug. Diesmal, rund 10 Jahre nach dem Höhepunkt der Terrorwelle, werden die Gewalttaten verurteilt, aber diese werden nur als die Folge der Gewalt der Juden (Israelis) an den Palästinensern hingestellt, und die Gewalt des Staates Israel wiederum als Folge der NS-Taten. So das letztlich antisemitische und dem Terrorismus gegenüber indifferente Weltbild eines Teiles der Linken. Und so auch das Modell, nach dem Deutschland im Besonderen bzw. die „alten weißen Männer” (einen Terminus, den man damals noch nicht kannte und auf den nicht mal Andreas Baader und Ulrike Meinhof gekommen waren) im Allgemeinen am Ende immer an allem Übel schuld sind.

Ein völlig anderes Thema sind die zum x-ten mal ausgezeichneten Kochbücher von Gräfe und Unzer (diesmal „Mikrowellen”), obwohl sich an der Aufmachung nichts Grundlegendes  änderte (und aufgrund des vom Verlag erwünschten Wiedererkennungswertes ja auch nicht sollte) – aus der Sicht des Chronisten eine eigentlich laut Wettbewerbsrichtlinien nicht zugelassene Reihenauszeichnung.

Beim Layout der prämierten Werke fällt ein neuer Trend auf, der sich auch in den Wettbewerben der anderen Länder beobachten lässt, wahrscheinlich ermöglicht durch Fortschritte in der Repro-, Satz- und Drucktechnik. Viele kleine Bildchen werden jetzt in geordneter oder manchmal in kaum geordneter Weise über die Seite verteilt. „Schönes” Layout?

Ein unaufhaltsamer Trend in allen Ländern war der Vormarsch von Bildbänden in den Wettbewerben – die hier als Spiegelbild des Buchmarktes und der diesen prägenden kulturellen und technischen Entwicklung dienten.

Georg Büchner 1813-1837

Georg Büchner 1813–1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler.
Katalog der Ausstellung auf der Mathildenhöhe Darmstadt 1987.

Der unglückselige, in jungen Jahren an Typhus gestorbene Arzt, Dichter und Revolutionär Georg Büchner (1813–1837) wird seit seiner Wiederentdeckung im Gefolge der 68er Bewegung bis weit hinein in bürgerliche Kreise – aus denen er selbst ja auch kam – genauso verehrt wie verklärt. Georg Büchner war aber ein Mann, der die Terrorherrschaft der Jakobiner nach Deutschland bringen wollte, ein Mann, der eine Missernte erhoffte, damit die passiven Bauern endlich aufgerüttelt werden, ein Mann, der viel Hanf anbauen wollte, damit man genügend Stricke für die Volksfeinde anfertigen könnte – und nicht nur zur Abschreckung.

In seiner bedingungslosen Radikalität, seiner krassen Überzeichnung der politischen und sozialen Verhältnisse, seiner tiefen Verachtung nicht nur alles Großbürgerlichen, sondern auch alles Kleinbürgerlichen und von ihm so empfundenen Mittelmäßigen (ganz schlimm für ihn: Gießen), seiner offenen Gewaltbereitschaft, in seinen flammenden Pamphleten, auch in seinem persönlichen Leiden sowie in seiner bürgerlichen, gut situierten Herkunft erinnert er den Chronisten – mit dem Abstand der Jahre seit seiner eigenen Jugend – sehr deutlich an die Protagonisten der RAF und ihre desperaten Aktionen, auch wenn es bei Büchner nie so weit kam. Dass aus ihm kein zweiter Karl Sand oder Karl Löhning wurde, war nur seiner Klugheit zu verdanken. Bereit, als Minister eines revolutionären Regimes Todesurteile anzuordnen, wäre er wohl ganz sicher gewesen.

Das kleine schriftstellerische Œuvre Büchners ist von der literarischen Qualität her kaum der Rede wert und erhält seinen so gesehenen Wert nur durch die Verbindung mit seinem von den Linken honorierten, wenn nicht gefeierten politischen Gehalt. Und dieser liegt zum Beispiel in „Dantons Tod” in der abscheulichen Rechtfertigung des Terrors von Maximilien Robespierre, der viele Tausende Franzosen, darunter auch die Revolutionäre der ersten Stunde, auf die Guillotine schickte. Die deutschen Fürsten wussten schon, vor wem sie Angst hatten und warum.

Den Bogen zur politischen Situation der BRD der 80er Jahre, in der Teile der Linken immer noch durch das Scheitern der RAF und den Erfolg der ihnen verhassten bundesrepublikanischen Staatsorgane traumatisiert waren, spannt nur allzu deutlich der letzte Beitrag des Bandes, der mit einem Plakat garniert ist (Exponat 1021), seitenfüllend und als einzige Abbildung des Kataloges in Farbe, auf dem Personen wie Graf von Stauffenberg und Rosa Luxemburg allesamt als vom Staat gesuchte „anarchistische Gewalttäter” bezeichnet werden. Ergänzt wird die Galerie mit dem Kotzebue-Attentäter Karl Sand und Figuren wie – man glaubt es kaum – dem vielfachen Mörder und weltweit operierenden Terroristen „Carlos”. Mehr noch, die Foto-Collage verwendet ein bekanntes Fahndungsplakat nach den RAF-Terroristen, um Stauffenberg auf dasselbe Niveau zu bringen wie Andreas Baader und Gudrun Ennslin oder eher letztere auf das der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 und letztlich dadurch den Staat BRD auf die Stufe des NS-Staates. Und das ist dann sehr genau RAF-Ideologie. Eine sehr böse Entgleisung. Dazu passt allerdings der Text des Kasseler Professors Ulrich Sonnemann (1912–1993), der in seinen verschrobenen philosophierenden Erörterungen im Stil der Frankfurter Schule die Taten der RAF relativiert und etwas verklausuliert ihre Straffreiheit fordert.

Schon dem erstem Aufsatz von Helmut Böhme (1936–2012), Historiker und Präsident der TH Darmstadt, dem etablierten, honorigen bürgerlichen Intellektuellen, merkt man deutlich die Sympathien für den gescheiterten linksradikalen Desperado Georg Büchner an. Kritische Distanz zu den vulgär-kommunistischen Utopien und Gewaltphantasien von Büchner sucht man in diesem Beitrag wie in allen anderen jedenfalls vergebens.

Zum Buch. Der Band will zweierlei sein: Katalog und Begleitband. Das konnte nicht gutgehen. So wurde ein Begleitband mit wissenschaftlichen Texten produziert, den man mit einem Teil der Ausstellungsexponate anreicherte. Nur rund die Hälfte der Exponate wurde überhaupt aufgenommen, davon die meisten in Briefmarkengröße und leider (fast) alle nur in Schwarz-Weiß. Den reichlichen Platz des voluminösen Bandes benötigten Heerscharen von linksgerichteten Professoren, in der Regel aus dem hessischen Raum, um wahlweise vertiefte Analysen von Büchners Leben und Werk abzugeben oder über seine Aktualität zu sinnieren.

Es muss noch ein Manko angesprochen werden, das die Arbeit mit dem für jeden Historiker trotzdem wertvollen Buch stark behindert. In den Randkolumnen sind kleingesetzt die Titel der Exponate mit kurzen Erläuterungen vermerkt. Auf den Seiten sind dann bestimmte Exponate auch abgedruckt – nur weiß man in vielen Fällen nicht welche, da leider die Zuordnungen vergessen wurden. (Sehr gravierend zum Beispiel auf der Seite 21. Erst nach mühsamer Suche erkennt man, wer jeweils gemeint ist.) Man musste hier eigentlich die Abbildungen durchnumerieren. Keine schwere Arbeit.

Eigentlich hätte ein solcher Fehler nach den selbsterstellten Regeln der Jury, wonach alles perfekt sein muss, eine Auszeichnung verboten oder allenfalls eine Abstufung zu den “Lobenden Erwähnungen” erzwungen. Zum wiederholten Male fragt sich der Chronist, wie genau die Juroren sich die Bücher ansahen und ob bestimmte Titel einfach die Auszeichnung bekommen sollten.

Rein vom Handwerklichen her hat der aus der linksradikalen Szene stammende Verlag Stroemfeld / Roter Stern, bekannt durch seine schöngeistige Hölderlin-Edition, mit diesem Band aber Großartiges geleistet. Alles ist hochwertig, angefangen beim luxuriösen Einband mit Goldprägung und dem unglaublich angenehmen satinierten Chamois-Papier mit 115 g. (Der Lieferant des Papiers, die Firma Geese aus Hamburg hat 2017 den Geschäftsbetrieb eingestellt, wie mittlerweile aufgrund des stark nachlassenden Interesses an Büchern leider so viele deutsche Papierfabriken.)

Das war alles auch sehr teuer, wie natürlich in erster Linie die riesige Ausstellung mit über 1000 Exponaten an sich. Es ist schon ironisch, wie viel der vertriebene gewaltbereite Revolutionär 200 Jahre nach seiner Geburt dem Staat sowie dem Wissenschafts- und Kunstbetrieb wert war und wohl auch noch ist. Das scheint man ihm posthum schuldig zu sein.

Zeitgeschichtlich interessant ist, wie die oben vom Chronisten beschriebene Sicht auf einen Revolutionär des Vormärz mit allen aktuellen Bezügen in den Jahren 1987/88 problemlos in Darmstadt (BRD) und danach in Weimar (DDR) präsentiert wurde. Es ist davon auszugehen, dass der Katalog auch in der DDR in den Vertrieb kam, zumindest in der Ausstellung. An den Texten der BRD-Historiker und -Literaturwissenschaftler werden die „marxistisch-leninistischen” Kollegen aus der DDR vielleicht hier und da noch einige kleinbürgerliche Tendenzen festgestellt, aber ansonsten keine großen Einwände vorgebracht haben.

linie

Lobende Erwähnungen

Dieter Blum: Auslöser

Dieter Blum: Auslöser

Dieter Blum (*1936) ist ein profilierter deutscher Fotojournalist. Aufnahmen und Geschichten von ihm wurden unter anderem im Stern und dem Zeitmagazin veröffentlicht. Der schwere und großformatige Band „Auslöser” zeigt Beispiele aus bereits veröffentlichten Stories bzw. eigenen Buchveröffentlichungen. Nur am Rande bemerkt, war es schon ein Hammer, für eine Zweitverwertung noch mal 148,- DM zu verlangen.

Zweifelsohne enthält das Buch einige großartige Highlights, insgesamt wirkt die Zusammenstellung jedoch als ein großes Durcheinander von irgendwelchen Schnappschüssen, die der Fotograf gemacht hat. Das war zwar offenbar die größte Fähigkeit von Dieter Blum, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und eine Kamera aufnahmebereit zu haben. Aber für eine Monographie würde man sich irgendeine Kohärenz wünschen. Zudem wurde offenbar bei der Zusammenstellung der Fotos mehrfach der Fehler gemacht, dass die Zuordnung zu den einzelnen Geschichten verloren ging, so dass Bilder in den Kapiteln des Buches aufeinander folgen, teilweise sich auch auf Doppelseiten gegenüberstehen, die kaum etwas miteinander zu tun haben können (z. B. S. 136/137).

Die fototechnische Qualität der Abbildungen ist teilweise nur als brutal zu beschreiben. Das kommt davon, wenn man unter schwierigen Lichtverhältnissen arbeitet, dann Kleinbild-Farbdias mit ASA 400 auf ASA 800 oder gar 1600 „puscht” und schließlich auf DIN A3 druckt. Dann sieht man nur noch körnige Schlieren. (Der Chronist hatte das Aufziehen von Kleinformat-Farbdias auf Übergröße schon hier kritisiert.)

Dem Chronisten ist klar, dass es in den 70er und 80er Jahren noch keine hochgezüchteten digitalen Sensoren mit einer bis zu 6-stelligen ISO-Empfindlichkeit gab. Dass es dennoch ganz anders und sehr viel besser ging, zeigen die Bildbände des National Geographic wie „The United States of America” oder „Europa”. Da hat man für dasselbe Geld etwas, was man in seinem Leben nicht mehr hergeben möchte. Beim Blum-Band fällt hingegen die Entscheidung nur zwischen Speicher und Altpapier.

Was speziell die Jury störte und zu der Abwertung auf „Lobende Anerkennung” führte, ist nicht bekannt. Waren es Kleinigkeiten, wie die stets fehlende Angabe des Zeitpunkts der Aufnahme oder die einigermaßen missratene und blaustichige Umschlagillustration (man vergleiche mit demselben Bild auf dem Vorsatz)? Wahrscheinlich war es das wellige Papier.

Neuer Berliner Kunstverein: Skulpturenboulevard 1987

Neuer Berliner Kunstverein: Skulpturenboulevard Kurfürstendamm Tauentzien. Kunst im öffentlichen Raum. Berlin 1987. 2 Bände.

Die zwei Bände sind die Dokumentation einer Open-Air-Ausstellung von Skulpturen anlässlich der 750-Jahr-Feier von Berlin. Das event war leider ausschließlich der „avantgardistischen Gegenwartskunst” vorbehalten. Das war aber nicht das einzige Problem.

In einem krassen Beispiel von Zensur wurde eine Skulptur der beiden profiliertesten Teilnehmer, des amerikanischen Ehepaares Edward und Nancy Kienholz, von der „Projektkommission” verboten. Einfach, weil die dort sitzenden vier Kunsthistoriker und Journalisten es so wollten. Wobei sie sich sicher mit dem zuständigen Kultursenator abgestimmt hatten.

Die beiden Künstler hatten vor, über dem Kurfürstendamm zwei riesige Kräne aufstellen zu lassen, die sich symbolisch für den Ost-West-Konflikt gegenseitig bedrängten. Kein einziges anderes Objekt der Ausstellung traf auch nur annähernd so gut (oder überhaupt) die Situation der geteilten Stadt. Aber die vier Wächter der „Projektkommission” befanden, man wolle „Dialog” zwischen Staaten, nicht „Gegnerschaft”. Noch lächerlicher war die Begründung, warum der zweite Teil des Kunstwerks ebenfalls nicht genehmigt wurde. Edward und Nancy Kienholz planten nämlich, zwei Kondome aufblasen und platzen zu lassen – als Symbolik für aggressives männliches Imponiergehabe. Dazu urteilte die Kommission: man könne es wegen der Krankheit AIDS „nicht zulassen, eine lebensrettende Prophylaxe der Zerstörung preiszugeben.” Die Aussage kann eigentlich kein Mensch glauben, aber sie steht aber wirklich auf S. 116 des Kataloges.

Dieser politische Durchgriff auf Kunst (die laut Grundgesetz Art. 5 Abs. 3 in Deutschland ausdrücklich „frei” ist) war in der Tat skandalös. Die Namen der Wächter der „politischen Korrektheit” damals 1987 in Berlin waren:
Lucie Schauer, Thomas Kempas, Jörn Merkert, Eberhard Roters.

Leider solidarisierten sich die anderen Künstler nicht mit dem Ehepaar Kienholz – schließlich ging es ja auch um gut dotierte Aufträge. So blieben beim Ausstellungsprojekt noch die beachtlichen Arbeiten von Martin Matschinsky und Brigitte Denninghoff, deren gigantische verformte Stahlbögen sehr an Eduardo Chillida erinnerten, und natürlich die stets interessanten („spannenden”) Objekte von Wolf Vostell.

Die krummen Eisenstangen und ähnliche Erzeugnisse, die von den anderen Künstlern über Berlin verteilt wurden, waren so belanglos, dass man nicht mal verbotene politische oder sexuelle Bezüge daran erschnüffeln konnte.

Die zwei Bände des Kataloges sind eigentlich sehr ansprechend und interessant gemacht. Am besten gefallen die transparenten Umschläge mit dem Straßennetz von Berlin sowie die aus dem gleichen transparenten Papier gefertigten Trennblätter mit den in Schwarz-Weiß (wie auf alten Fotokopierern, also nicht in Graustufen) gehaltenen Portraits der Künstler.

Was zur Abstufung auf „Lobende Erwähnung” führte, ist in diesem Falle klar. Durchgängig laufen auf linker wie rechter Seite die End- bzw. Anfangszeilen so weit in den Mittelfalz, dass man das Buch förmlich aufbrechen müsste, um den Text zu lesen. Dabei stehen am jeweils äußeren Seitenrand teilweise leere weiße Randkolumnen von 40 % der Seitenbreite. Ständig wechselt das Layout auch zwischen ein-, zwei- und dreispaltig, als handele es sich um „freie Kunst”.

Es war schon sehr mutig vom Neuen Berliner Kunstverein bzw. dem Dietrich Reimer Verlag, die Bücher trotz dieses schweren handwerklichen Mangels beim Wettbewerb einzureichen. Vielleicht dachten die Macher der Bücher: „Ob die das merken in Frankfurt?” Vielleicht dachten sie auch: „Es ist doch egal! Wer liest denn die Texte überhaupt?”

Im zweiten Fall hatten sie möglicherweise Recht, im ersten Fall nicht, obwohl der Chronist hier bei seinen Rezensionen mehrfach zu weit in die Buchmitte laufenden Text bei Preisträgern des Wettbewerbes angesprochen hat.

linie

Der Wettbewerb in der DDR

Die schönsten Bücher der DDR 1987

Überraschend wurden diesmal nur 44 Titel ausgezeichnet, so wenige wie seit vielen Jahren nicht. Die Begründung, wegen der anstehenden Internationalen Buchkunst-Ausstellung habe man eine besonders kritische Auswahl getroffen, klingt nicht besonders glaubhaft, zumal mit 242 eingereichten Titeln ein Höchststand ebenfalls seit vielen Jahren erreicht wurde.

Die nationale Buchproduktion stagnierte weiterhin auf 6500 Titeln, ein Wert, der scheinbar jetzt auch so festgelegt war („die jedes Jahr erscheinenden 6500 Titel”) – Symptom der Mangel- und Zentralverwaltungswirtschaft.

Die Hinweise auf sparsamen Materialeinsatz waren im diesjährigen Katalog nicht ganz so penetrant wie in den letzten Jahren. Vergessen wurde die Aufforderung aber nicht, „durch überlegt konzipierte Satzspiegel das verfügbare Papier sinnvoll auszunutzen” (S. 6). Dass  gedrängter Satz nicht lesbarer und „schöner” ist, sollte klar sein.

Auch inhaltlich war die Buchproduktion bei aller Qualität im Einzelnen insgesamt eingefahren auf Gleisen, die der „marxistisch-leninistischen” Nomenklatura als ideologisch zulässig und bewährt erschienen, aber gerade im Vergleich mit der kulturellen Entwicklung der westlichen Welt immer schmaler erschienen.

Erschreckend ist auch die bei allen in Einzelfällen vorgenommenen spaltweisen Öffnung (siehe Paris-Bildband des Jahres 1986) strikt durchgehaltene Abschottung gegenüber dem politischen und kulturellen Leben des Westens. Man hatte ja den großen Bruder Sowjetunion und man hatte die „antiimperialistischen” Staaten der Dritten Welt. Deshalb ist auch ein prämierter Band wie „Ernesto Cardenal: Lateinamerikanische Psalmen” ganz typisch für die Buchproduktion der DDR. Wie sehr sich die enge Bindung an die Sowjetunion rächen sollte, ahnten vielleicht 1987 schon einige. Denn in Moskau war der Umbauprozess (Perestroika) durch Michail Gorbatschow 1986 schon begonnen worden, der den Untergang der DDR sehr bald einleitete.

Gerhard Kiesling / Fritz Jahn: Berliner Farben

Gerhard Kiesling / Fritz Jahn: Berliner Farben

Kann es ein schöneres Buch geben als eines, das einfach Freude macht? Das auch wehmutsvolle Erinnerungen an eine vergangene Zeit wachruft (auch wenn man selbst nicht Bürger dieses Staates war)?

In der Machart ist das Buch völlig konventionell, aber hier ist eben alles stimmig, alles ist am richtigen Platz, nichts stört.

Die Aufnahmen sind durchweg meisterhaft. Gerhard Kiesling (1922–2016) war ein Fotograf, der seine Ausrüstung beherrschte, so wie die Repro-Abteilung und die Druckerei die ihrigen. Kiesling arbeitete übrigens mit „westlicher” Ausrüstung, nämlich Rolleiflex Mittelformat und Leica Kleinbildformat. Damit zog er alle Register an offensichtlich hochwertigen Objektiven, um seine Motive mit geübtem und kundigem Auge in Szene zu setzen. So entsteht (Ost-)Berlin vor dem Auge des Betrachters Seite für Seite als buntes Kaleidoskop und darüber hinaus als Metropole, die sich sehen lassen konnte.

Sehr hübsch und technisch perfekt auch der beidseitig illustrierte Schutzumschlag.

Die Gewichtung der Aufnahmen hätte man etwas anders vornehmen können. Auf Dauer sind es dann doch zu viele Hochhausfassaden, die natürlich immer aus anderem Blickwinkel aufgenommen wurden, es  bleiben aber doch dieselben Gebäude. Etwas mehr Straßenszenen wie die bestrickenden Bilder auf Seite 154-155 und 158-159 wären bereichernd gewesen. Auch „Menschen bei der Arbeit“ hätte man aufnehmen können. Gut hat Kiesling hingegen daran getan, auch die Umgebung der Stadt einzubeziehen, wie den Müggelsee.

Etwas drollig sind die Bildlegenden. Sie versprühen den Esprit von: „Hier können Familien Kaffee trinken“ (S. 99). An diesen Texten erkennt man wieder dieses Biedere, das die DDR an sich hatte. Auf der anderen Seite wird aber gerade an den für den westlichen Betrachter überraschend vielen und gut gefüllten Freiluftcafés deutlich, dass im ostdeutschen Staat keineswegs ein bitteres Elend herrschte, wie es in den bundesdeutschen Medien gerne gezeichnet wurde.

linie

...was macht die Schweiz?

Die schönsten Schweizer Bücher 1987

Die schönsten Schweizer Bücher 1987

Wieder nehmen die Beschreibungen der Tagungsumgebung viel zu viel Platz im kurzen Vorwort von Hans Rudolf Bosch ein. Unter anderem geht es dabei um die “Besichtigungen des Bürger- und Kirchenschatzes” der Stadt Rapperswil.

Von den Büchern erfährt man hingegen nicht viel. Ein paar nicht so dramatische Beanstandungen werden erwähnt, vor allem, dass die Verlage den ordnungsgemäßen Satz der Titelei nicht mehr so ernst nähmen.

Die Anzahl der zum Wettbewerb eingereichten Bücher ging weiter zurück auf 212 Titel (1985: 238, 1983: 291). Das war in vier Jahren ein Rückgang um rund 30 %, aber der Jury nicht weiter eine Erwähnung wert.

Von den 29 ausgezeichneten Titeln kamen 22 aus der deutschsprachigen Schweiz und 7 aus der französischsprachigen. Aus dem italienischen und dem räto-romanischen Sprachgebiet war gar nichts unter den Preisträgern. Damit war man wieder auf dem Stand der 50er Jahre. Aber auch das schien Dr. Bosch und die seinen nicht zu bekümmern.

Nächstes Jahr sollten große Veränderungen anstehen.

Akt Fotoschule Band 1
1987_akt_hillebrand

Abbildung aus besprochenem Band. Fotograf: Rudolf Hillebrand.

1987_akt_fauville_1

Claus Militz / Rudolf Hillebrand /
Adrian Bircher (Hg.):
Akt Fotoschule Band 1


Die Namen der drei renommierten Fotojournalisten als Herausgeber täuschen darüber hinweg, dass am Zustandekommen dieses Bandes mehrere Dutzend internationale Fotografen und auch einige Fotografinnen beteiligt waren.

Und endlich mal wieder muss der Chronist, selbst viele Jahre Mitglied im Deutschen Verband für Fotografie, nicht über Foto- und Repro-Qualität motzen und sich wundern, was so alles hohe Preise erhielt.

Foto, Repro, Druck sind ganz vorzüglich, und zwar durchgängig. Ansprechendes und passendes Layout, aber auch die handwerkliche Seite des Buches: Papier, Bindung, Einband, Schutzumschlag usw., alles ist im oberen und höchsten Bereich von dem, was möglich ist.

Darüber hinaus sind die Lektionen bei dem “nicht einfachen Bildthema” (Vorwort) so aufgebaut, dass man vieles auch für andere Sujets lernen kann: Bildaufbau, Belichtung, Farbgebung etc.

Die zahlreichen Fotos reichen entsprechend der tatsächlich auf dem Markt vertretenen Kategorien von wirklicher Kunst (siehe Beispiele) über als Kunst verbrämte Soft-Pornographie bis hin zu dem obszönen Kitsch, der über die “Herrenmagazine” verbreitet wird. Typisch für Letzteres: nacktes Model (blond), mit schwarzen Strümpfen und Stöckelschuhen, hinter Gittern, dem Betrachter schmachtende Blicke zuwerfend.

Sehr lehrreich ist der Vergleich der verschiedenen Fotografen und die sachkundige Kommentierung der Herausgeber, wie jeweils Licht, Umgebung, Bildaufbau, Posen der Models, beabsichtigte Wirkung auf den Betrachter usw. eingesetzt werden.

Und tatsächlich scheint sich das Vorurteil zu bestätigen, dass die Fotografinnen gegenüber ihren männlichen Kollegen (wenn auch nicht allen) eine zartere, romantischere Herangehensweise haben.

Phantastisch übrigens die im Buch anschaulich dargelegten vielen Verfremdungs- und Manipulationsmöglichkeiten, die auch die analoge Photographie bot. Dafür musste man aber was können.

Das Buch kostete damals – zu Recht – teure 98 Schweizer Franken (rund 180 DM) und erschien in beachtlichen 10.000 Exemplaren, natürlich für den gesamten deutschsprachigen Markt. Heute bekommt man das Werk auf den einschlägigen Portalen in neuwertiger Qualität für unter 10 Euro nachgeworfen. Traurig. Ein zweiter Band erschien dann auch nicht mehr. Vielleicht hatte der Verlag den Markt falsch eingeschätzt.

Links zwei Variationen des Themas “Haut und Stein”.

Abbildung aus besprochenem Band. Fotograf: Claude Fauville.

linie

Hochgeladen am 11. April 2021. Zuletzt aktualisiert am 31. Juli 2023.

linie

Die auf dieser Seite vorgestellten Bücher wurden geliefert von: Jüterbook (Berlin), medimops (Akt Fotoschule).

linie