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1982 verlor die SPD die Kanzlerschaft an die CDU – und sie sollte sie nur noch ein einziges Mal zurückgewinnen. Die “geistig-politische Wende” (“Wende” wurde später ein inflationär gebrauchter Begriff, mit dem von den Wortschöpfern stets eine positiv gewertete Umkehr, ein grundlegender Fortschritt suggeriert wird: “Energiewende”, “Verkehrswende” etc.) des Helmut Kohl war nur möglich mit Hilfe der klassischen “Umfallerpartei” FDP. Die “moralische Erneuerung” war unter anderem begleitet von illegalen Parteispenden in Millionenhöhe. Dass Kohl dann so lange Kanzler bleiben würde, dachte kein Mensch.

Weiterhin gab es große Demonstrationen gegen den “NATO-Doppelbeschluss” und die “Startbahn West” des Frankfurter Flughafens. Beides wurde allerdings nicht verhindert und ihre Realisierung zeigte entgegen den Erwartungen der Demonstranten keinerlei negativen Folgen.

Im internationalen Geschehen beobachtete die Welt einigermaßen erstaunt den skurrilen Krieg um die Falkland-Inseln.

Die schönsten Bücher der Bundesrepublik Deutschland 1982

Die schönsten Bücher
der Bundesrepublik Deutschland 1982

In der Stiftung Buchkunst gab es in den Jahren 1982 und 1983 große Veränderungen, die anscheinend nicht ohne Konflikte einhergingen. Vor allem das Ausscheiden des Geschäftsführers Philipp Bertheau war wohl von erheblichen Spannungen begleitet. Silvia Werfel schreibt in ihrem Aufsatz „Typographie und technischer Wandel” von „Vorfällen, die hier nicht zu erörtern sind”.

Neuer Geschäftsführer wurde der Verlagsbuchhändler Wolfgang Rasch. Von welchem Verlag er bei der Stiftung einstieg, erfährt man leider nicht. Rasch blieb fast 20 Jahre bei der Stiftung Buchkunst.

Eingeführt wurde der neue Geschäftsführer von Jürgen Tesch, Vertreter des Vorstandes der Stiftung. Bei diesem Namen kommt man bei einer Internet-Recherche weiter. Jürgen Tesch war Inhaber des Prestel Verlags, dessen Bücher häufig ausgezeichnet wurden, also ein Lobbyist – aber die Stiftung Buchkunst war ja per se eine Lobbyorganisation der Buchbranche. Deshalb ist es auch nicht ganz ersichtlich, warum bis auf den heutigen Tag (2019) nach dem Börsenverein und der Deutschen Bibliothek auch die Stadt Frankfurt unter den Gesellschaftern verzeichnet wird. Ebenso ist nicht klar, aus welchen Gründen nach dem Bundesverband der Druckindustrie das Land Hessen lange Jahre als zweiter offizieller Förderer auftrat.

Im diesjährigen Katalog blieb es zunächst noch bei der für eine Selbstüberschätzung der Stiftung sprechenden Anzahl von drei Vorworten. Immerhin wurde deren Umfang aber drastisch gekürzt, so dass die Vorstellung der ausgezeichneten Titel jetzt „schon” auf S. 20 anfing (Vorjahr S. 37).

Tesch teilt mehrere Neuerungen des Wettbewerbes mit. Seine Mitteilungen sind sprachlich und sachlich teils schwer nachzuvollziehen. „Nun, wo die Grenzen des Buchmarktes erkannt scheinen und Bücher weniger häufig wegen eines griffigen Slogans oder ihres lockenden Umschlages (...) wegen gekauft werden, scheint doch der ästhetischen Qualität des Mediums Buch wieder mehr Bedeutung gegeben zu werden.” (S. 9) Diese Aussage widerspricht allen damaligen und aktuellen Analysen des Buchmarktes, die dem Chronisten bekannt sind, wonach Werbung und attraktive Umschläge zunehmend kaufentscheidend wurden und bis heute sind.

Der Verfasser widerspricht sich darüber hinaus selbst, wenn er fortfährt, dass „die Schweißfolie, die das Buch zum Konsumartikel degradiert, nicht mehr wegzudenken ist”.

Tesch stellt die „vermehrten Einsendungen” heraus, nämlich 524 Titel (wovon 48 ausgewählt wurden). Tatsächlich waren es 1981 nur 459 gewesen. Dabei verschweigt der Mann von der Stiftung aber, dass 1980 von den Verlagen 538 Titel eingesendet worden waren. Man stagnierte also eher, als dass man expandierte. 1983 sollten es dann auch wieder nur 509 Einsendungen sein. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der gesamte Buchmarkt in diesen Jahren weiter rasant wuchs.

Nach wie vor muss es massive Kritik der Verlage an der Auswahlpolitik der Jury gegeben haben, denn Tesch erwähnt „recht kritische Anfragen zur Arbeit der Stiftung Buchkunst von den Verlegern, deren Bücher eine Prämierung knapp verfehlten.” Nur von diesen Verlegern? (Siehe unten.)

Überraschend wird jetzt die Diskussion um Film- und Lichtsatz, die nicht nur den bundesdeutschen Wettbewerb über viele Jahre intensiv beschäftigt hat, aufgrund der fortgeschrittenen Entwicklung plötzlich für abgeschlossen erklärt (S. 10). Bücher, die bestimmte, von diesen Verfahren herrührende Mängel beim Schriftbild hatten und die bisher kritisiert und wohl auch nicht ausgezeichnet wurden, sollten ja auch verkauft werden. Anders kann man sich diesen von einem aufs andere Jahr kommenden Umschwung nicht erklären.

Mehrere Absätze füllen wieder die Ankündigungen neuer Aktivitäten, um das Interesse am Wettbewerb zu steigern. Von solchen Versuchen hat der Chronist schon viel gelesen – alleine sie waren bis auf den heutigen Tag (2019) nie sonderlich erfolgreich.

Eine weitere, ganz grundlegende Veränderung sollte auf Dauer keinen Bestand haben. Mit dem nächsten Jahr 1983 wurde ein neuer Sitzungsrhythmus eingeführt, der der Jury erlaubte, bereits die Herbstproduktion der Verlage zu bewerten, um die Ergebnisse noch im laufenden Kalenderjahr zu präsentieren – natürlich und offen eingestanden zur Verkaufsförderung im Weihnachtsgeschäft. Dass das aufgrund des entstehenden Termindrucks nicht lange gut gehen konnte, hätte der Stiftung Buchkunst klar sein müssen.

Normal wäre dann für das zweite Vorwort ein Schriftsteller dran gewesen – jedenfalls wurde es seit der 1979 initiierten großen Veränderung des Kataloges so praktiziert. Deren Texte mögen aber vielen Leuten (wie auch dem Rezensenten) als ausufernd, vage und beliebig vorgekommen sein, so dass man diesmal Philipp Luidl (1930–2015), einen Schriftsetzer und Lyriker in einer Person, darum bat, Gedanken zum Wettbewerb und zu schönem Satz zu äußern.

Zum Schluss der einleitenden Texte schreibt der neue Geschäftsführer Wolfgang Rasch noch ein paar wenige Seiten.

Darin geht es wieder um die Darstellung des Auswahlprozesses durch Jury und Vorjury.

Immerhin hatte sich in den letzten Jahren ein Kulturwandel vollzogen. In den 50er und frühen 60er Jahren weigerte sich die Jury noch, ihre Auswahlkriterien auch nur zu benennen. Hier war vor allem seit den 70er Jahren mehr und mehr etwas Offenheit eingekehrt. Geradezu radikal war der 1981 vollzogene Schritt, die ausgefüllten Bewertungsbögen an die Verlage zurückzuschicken. Nun teilte Rasch mit, dass man im selben Jahr noch einen Schritt weiter gegangen war – und das war wirklich gewagt. Denn die Stiftung Buchkunst legte die Bewertungsbögen auch der ausgesonderten Kandidaten bei der Frankfurter Buchmesse aus (unklar ist, ob nur an den Fach- oder auch an den Publikumstagen). Es kann kaum überraschen, dass diese Vorgehensweise „Kritik an den Juroren herausforderte”, dass auch „aggressiv” gestritten wurde, ja sogar „unhaltbare Angriffe” vorkamen (S. 19). Wer lässt sich schon gerne öffentlich bloßstellen, zumal auf der Grundlage von nicht immer nachvollziehbaren Beurteilungen?

Das Heft wurde jetzt jedes Jahr von wechselnden Designern gestaltet. Der Umschlag 1982 war der wohl unattraktivste des ganzen Wettbewerbs in all den Jahren. Schwer zu sagen, was die beiden verschnörkelten Buchstaben einer alten Schrift (der Chronist glaubt A und B in Fraktur zu erkennen) in einem vergilbten Buch auf einer barocken Marmorsäule bedeuten sollten. Vielleicht Werbung für den antiquarischen Buchhandel?

Im Innenteil blieb es leider noch auf Jahre bei der schmutzig-grauen Reproduktion der Buchseiten – wieso schritt da eigentlich niemand ein?

Ein paar Hinweise zu den inhaltlichen Trends der ausgewählten Bücher.

Die Faszination der Linken und Intellektuellen an der „käuflichen Liebe” ist genauso offenkundig, wie sie auch ihren „eigentlich” vertretenen Werten konträr ist. Immer wieder tauchten Bände bei den Preisträgern auf, in denen es in keineswegs kritischer Manier um Prostitution ging. 1982 war es das „Liebes Leben” (siehe unten). Rechtfertigen konnte man es damit, dass a) einige Huren ja angeblich „selbstbestimmt” tätig waren, b) dem gehassten bürgerlichen Ideal der monogamen Ehe etwas entgegengesetzt wurde und c) es doch schöne Bildbände waren!

Ein großer Trend waren „alternative Reiseführer”. Als erster erschloss der Rowohlt Taschenbuch Verlag diesen lukrativen Markt und verdiente sicher prächtig daran. Eine treffliche Wahl für den Einstieg war „Amsterdam”.

Dass Umweltbücher nicht mehr wegzudenken waren, zeigt auch dieser Jahrgang.

Und dann gab es immer mal wieder Jahre, in denen die Architektur eine große Rolle spielte. Zeichnungen und Fotografien von Gebäuden, ganzen Städten und Landschaften waren natürlich auch dazu prädestiniert, in schönen und großformatigen Büchern präsentiert zu werden.

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Roswitha Hecke: Liebes Leben

Rogner & Bernhard (1978)

Rowohlt Taschenbuch Verlag (1982)

Roswitha Hecke: Liebes Leben

Mit der Auszeichnung der Rowohlt Ausgabe fällt die Jury wieder in eine alte Unsitte zurück. Die kleine Taschenbuch-Edition ist prima und hochwertig gemacht (mit einer Ausnahme; siehe unten), kann aber überhaupt nicht schöner oder besser sein als das Original, das Rogner & Bernhard 1978 als in Leinen gebundene Hardcover-Ausgabe in edler Ausstattung vorlegte.

Der Innenteil ist identisch, aber eben verkleinert. Damit sich die ästhetische Kraft der Schwarz-Weiß-Fotos entfalten kann, sollten sie wenigstens das Format der Erstausgabe haben.

Das, was der Rowohlt Taschenbuch Verlag verändert hat, beschränkt sich hauptsächlich auf den Umschlag und da hat man wirklich alles verschlechtert. Die Farbe ist überflüssig und effekthascherisch, die wunderbare Schrift des Titels wurde durch eine Allerweltsschrift ersetzt, der rororo-Kasten stört enorm, das neue Format des Fotos nimmt ihm einiges von der Wirkung (das Modell wirkt jetzt wie im Rampenlicht auf einer Bühne statt etwas verloren auf einer Brücke) – und schließlich fällt der Name der Hauptperson Irene weg, da man irgendwie keinen Platz mehr für den Untertitel hatte.

Ergänzt wurden bei der rororo-Ausgabe noch einige Pressestimmen zur Erstauflage. Da zitiert man die “Süddeutsche Zeitung” wirklich mit der blödsinnigen Aussage, Frau Hecke würde “lesbisch fotografieren”. Das Datum der Besprechung lässt der Verlag weg, damit die Leser nicht merken, dass das Buch schon 4 Jahre alt ist.

Die besten Fotos sind die Serien auf den Altstadt-Straßen von Zürich (könnte auch Hamburg sein) und Rom, das man recht eindeutig erkennt, sowie in den einschlägigen Etablissements. Nie weiß man dabei, inwieweit auch diese “Schnappschüsse” arrangiert waren. Sehr gelungen auch einige der für heutige Begriffe dezent erotischen Aufnahmen. Ein bisschen zu oft ist aber das Gesäß in den Mittelpunkt gerückt und warum man das Model auf mehreren Fotos von der Kloschüssel aufstehen sieht, wird auch nicht ganz klar.

Hervorragend ist es der Fotografin Roswitha Hecke (*1944) in der Gesamtschau mit einem objektiven Blick gelungen, eine bestimmte Stimmung einzufangen, die zwischen Selbstbestimmung und Trostlosigkeit changiert.

Enorm abgewertet wird das Buch allerdings von den ständig eingestreuten, extrem frauenverachtenden Zitaten von Charles Baudelaire.

Deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts aus dem Busch-Reisinger Museum

Deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts
aus dem Busch-Reisinger Museum


Wie bloß kam die Jury – die ja immerhin aus einer Ansammlung von mehreren Menschen bestand – auf die Idee, in diesem Ausstellungskatalog eines der schönsten Bücher des Jahres erkennen zu wollen?

Weit überwiegend werden die schönen Werke nur in Schwarz-Weiß reproduziert. Das erstaunt bei einem mit internationaler Beteiligung produzierten Katalog, der broschiert mit 35,- DM einiges kostete. In der Regel bezahlten die Käufer ja vorher auch noch den Eintrittspreis.

In den 80ern war es drucktechnisch durchaus möglich, auch durchgehend farbige Kataloge zu vernünftigen Preisen zu drucken. Die farbenfrohen Werke des deutschen Expressionismus, die den Schwerpunkt der Ausstellung bilden, hätten es *verdient* gehabt.

Noch schlechter ist dann die Qualität der ganz wenigen Farbabbildungen, die dermaßen blass reproduziert sind, dass es eine Zumutung ist (siehe z. B. S. 57).

Am allerschlimmsten ist das Layout, das ständig wechselt und dadurch Unruhe verbreitet. Das Hauptziel des Layouts scheint aber darin zu liegen, dass man den Text nicht vollständig lesen kann. Links und rechts wurde bis knapp an den Blattrand gedruckt. Links muss man also ständig den Daumen zurückziehen, wenn man was lesen will. Könnte man das noch als lustig empfinden, hört der Spaß aber auf, wenn man, um im aufgeschlagenen Buch innen etwas lesen zu wollen, den Buchrücken mit brutaler Gewalt aufbrechen muss.

Da sowohl die Jury als auch schon die Vorjury diese Defizite zweifelsohne erkannt haben, stellt sich die Frage, wer oder was hier gefördert werden sollte.

Irritierend ist auch, dass offenbar der russisch-sowjetische Künstler El Lissitzky mit dem Konstruktivismus der deutschen Kunst zugerechnet wird. Wenn es auch Querverbindungen gibt, kann natürlich nicht ein Bild von Lissitzky auf dem Umschlag eines Ausstellungskataloges mit dem Titel „Deutsche Kunst des 20. Jahrhunderts” stehen.

Roland Günter: Anders reisen. Amsterdam.

Roland Günter: Anders reisen. Amsterdam.

Der Massentourismus explodierte zwar erst mit dem Aufkommen der “Billigflieger” in den 90er Jahren, aber schon vorher war die Entwicklung des Reisemarktes expansiv und ergriff zunehmend alle Bevölkerungsschichten. Entsprechend stieg die Nachfrage nach Reiseliteratur. Dabei galt es, die ins Auge gefassten Zielgruppen bedarfsgerecht zu bedienen.

“Alternative” und “progressive” Leute wollten auch reisen, und auch wenn sich die Öko-Problematik des Tourismus in den 80ern noch nicht so wie im späteren Umfang darstellte, wollten sie “anders” reisen und etwas vorgesetzt bekommen, was ihrem Gesellschaftsbild entsprach.

Der Rowohlt Taschenbuch Verlag erkannte diese Marktlücke sehr geschickt und belieferte sie mit der neuen Reihe “Anders reisen”, der in der Gruppe rororo sachbuch die Zahlen 7500 folgende eigens reserviert wurden, so groß schätzte man das Potential ein.

Zunächst waren die großen Metropolen und für die Klientel besonders interessante Staaten sowie Querschnittsthemen wie “Trampen” dran.

“Amsterdam” trug die Nummer 7506. Für diesen Titel konnte der Verlag Roland Günter (*1936), einen profunden Kenner der niederländischen Kultur, gewinnen. Anders als es der Titel suggeriert, hat er jedoch nur Teile des Buches geschrieben. Für viele Passagen fungierte Günter nur als eine Art Chefredakteur.

Typisch für die ganze Reihe bringt “Amsterdam” wenig Hochkultur, wenig klassische “Sehenswürdigkeiten”. Stattdessen “Widerstand”, Kampf gegen Stadtzerstörung usw. Wie nicht anders zu erwarten Homosexualität (schon die Einbandillustration mit dem Tango tanzenden schwulen Polizistenpärchen ist mehr als eine Andeutung), Situation von allen möglichen Minderheiten. Überraschenderweise aber kaum Drogen – hier fallen die deutlichen Warnungen angenehm auf.

Der größte Teil des Buches (und damit für einen Reiseführer zu viel) besteht aus der Geschichte von Amsterdam, verfasst streng aus links-alternativer Sicht vom Autor selbst und wohl vom Verlag auch maßgeschneidert für ihn. Interessant ist dieser Teil allemal und zeigt par excellence die in den 80er Jahren sich durchsetzenden neuen Entwicklungen in der Geschichtsforschung: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Alltagsgeschichte, “Geschichte von unten”.

Bei der Beschreibung eines typischen Tages im Leben des “Pieter Neesken” im Jahre 1641 wendet Roland Günter eine Methode an, die mit Vorsicht zu genießen ist. Es ist eine Mischung von Fakten, von “Sich-Anverwandeln” und “Sich-Einfühlen”. Dazu gehören auch seitenweise imaginierte Dialoge von Amsterdamer Bürgern aus dem 17. Jahrhundert, die Günter in modernem deutschem Umgangston sprechen lässt, und ziemlich flapsig, weil er meint, die Amsterdamer sind so. Auf Dauer ist es nervig und unglaubwürdig.

Die Methode zu dieser Geschichtsschreibung entwickelte Günter in seiner Habilitationsschrift “Amsterdam: Die Sprache der Bilderwelt.” Er entnimmt Details aus historischen Gemälden dieser Zeit und übertragt sie auf das damalige Alltagsleben. Aber kann es sein, dass ein Lastenträger im streng kalvinistischen Amsterdam der damaligen Zeit mehrmals täglich ein Nickerchen macht? Dass er ständig anhält, um mit anderen Personen ein Schwätzchen zu halten? Dass er sein Mittagessen auswärts kauft – bei dem wenigen Geld, das er verdient? Der Chronist hat da so seine Zweifel.

Und durchgängig ist die Geschichtsdarstellung simplifiziert und auch nicht immer richtig. So errichteten die Wiedertäufer in Münster in irgendeiner Sichtweise vielleicht einen “christlichen Kommunismus”, aber doch auch ein barbarisches Terrorregime. Und dass in einem Buch über die niederländische Geschichte Wilhelm von Oranien nicht vorkommt, geht gar nicht. Aber das wäre dem Verfasser wohl zu sehr “Adelsgeschichte”, die er ablehnt und der er irrigerweise für die Niederlande nur eine geringe Bedeutung beimisst.

Allerdings sind diese Passagen sehr anschaulich und unterhaltsam geschrieben, wie das ganze Buch, wenn man seinen spezifischen Blickwinkel erträglich findet. “Anders reisen” sollte aber nur als Ergänzung zu den herkömmlichen Reiseführern dienen. Sonst verpasst man zu viel.

Ergänzt werden die historischen Exkurse durch Beobachtungen aus dem Alltagsleben zu Anfang der 1980er Jahre (auch allgemein aus den Niederlanden), wobei eine Verherrlichung der Kraker (Hausbesetzer) – eines der längsten Kapitel des Buches – und eine für Linke typische und eigenartig unreflektierte Sicht der Prostitution auffallen (siehe auch mein Vorwort oben zum Jahrgang 1982): “In den Häusern ringsum zeigt eine Handelsstadt, was sie hat: ‘gute alte’ Prostitution, mit der ‘Ware’ im Schaufenster.” (S. 197) Da stockt einem doch der Atem.

Am besten sind die Streifzüge durch die Stadtviertel, wobei die Autoren viel Beobachtungsgabe zeigen, und die Unmengen an praktischen Tipps am Schluss.

Beispielhaft erkennt man an diesem Preisträger, wie die Stiftung Buchkunst mit sich selbst und ihrem Slogan uneins war: ein schönes Buch kann man beim besten Willen bei diesem Titel nicht erkennen. Und zwar nicht wegen den hässlichen Seiten der niederländischen Stadt, die in den Vordergrund gerückt werden, sondern wegen dem billigen Papier und den durchgängig zu kleinen Abbildungen, wobei die Fotos insgesamt gerade noch gehen, aber die schwärzlich-verschwommenen Reproduktionen der Gemälde katastrophal sind. Manchmal ist es schwer, irgend etwas zu erkennen. Hinzu kommt der für einen Reiseführer zu weiche und empfindliche Einband.

Ein interessantes Buch: ja. Eines der Bücher des Jahrgangs (wie es in den 70ern hieß) wohl nicht. Da müsste man auch fragen, wieso die Vorgänger in der Reihe mit demselben Konzept und sehr ähnlichem Layout leer ausgingen.

Oder ging es mal wieder darum, etwas in den Markt zu drücken? Eine Empfehlung der Stiftung Buchkunst brauchte diese Reihe kaum. “Amsterdam” z. B. hat zahlreiche Nachauflagen erfahren, zuletzt 1994. Die hier wie (fast) immer abgebildete und besprochene Erstauflage ist antiquarisch in vernünftigem Zustand nur noch sehr schwer zu haben – woran der Sammler ihren großen kommerziellen Erfolg erkennt. Das hässliche Cover wurde bei den Nachauflagen ersetzt.

Nach Meinung des Verfassers war die beste der „alternativen” Reihen: „Billiger reisen”. Da gab es die praktischen Tips für Leute mit wenig Geld ohne den ideologischen Überbau.

Sarah Kirsch: Erdreich

Sarah Kirsch: Erdreich

Sowohl Einband als auch Umschlag sind nicht passend zugeschnitten. Das Papier ist billig und stark holzhaltig. Damit sollte wohl eine Art “Werkcharakter” demonstriert werden. Selbst bei einem unbenutzten und ungelesenen Exemplar ist vom Rand her Lichteinwirkung zu sehen. Eines der schönsten Bücher?

Das Foto der hier schon 1973 vorgestellten Autorin auf dem Umschlag ist herrlich in seiner Zeitgebundenheit. Typisch 80er. In Schwarz-weiß aufgenommen, lässig an der Wand lehnend (wenn auch der linke Arm noch schützend vor das sensible Ich gehalten wird), Zigarette, Altbau-Wohnung.

Die Gedichte entstanden teilweise bei einer Reise in die USA, die sich die aus der DDR (wo sie de facto Berufsverbot hatte) emigrierte Kirsch jetzt politisch (und wohl auch finanziell) leisten konnte. Beispiel für den schon in den 70ern einsetzenden brain drain aus der DDR.

Der Stil der Dichterin mit seinem manierierten Zeilensprung (wohl ihr Wahrzeichen) ist schwer zu lesen.

Hans Hillmann: Fliegenpapier

Hans Hillmann: Fliegenpapier

Mit diesem Buch bewies Zweitausendeins, was möglich war: ein in buchstäblich jeder Hinsicht hochwertiges Buch für wenig Geld zu produzieren. Obwohl edle Materialien und teure Ausstattung gewählt wurden, kostete das „Fliegenpapier” nur unglaubliche 20 DM. Das ging deshalb, weil Zweitauseneins nicht den kostspieligen „Overhead” eines traditionellen Verlages hatte. Ob Zweitausendeins für das Experiment, das dieses Buch damals war, vielleicht sogar auf Gewinnerzielungsabsicht verzichtete, kann man nur spekulieren.

„Fliegenpapier” war „state of the art”. Hier machte ein renommierter Künstler aus einem Kriminalroman von Dashiel Hammett einen anspruchsvollen Comic. Der Terminus „Graphic Novel” war damals erst im Entstehen begriffen.

Hans Hillmann (1925–2014) war zweifelsohne einer der absolut bedeutendsten deutschen Graphik Designer. Neben seinen Filmplakaten waren die Umschlagillustrationen der Romane von John Updike seine besten Arbeiten.

Hier versuchte er sich daran, einen Roman komplett durchzuillustrieren. Genial gestaltet Hillmann Atmosphäre, Belichtung, Räumlichkeiten. Die vielen Details in den Räumen sind ganz unglaublich. Bei den Blicken über die Stadtviertel von San Francisco scheinen die Einzelheiten aber oft chaotisch und verwirrend.

Die feinen, plastisch wirkenden Grautöne erzielte der Künstler, indem er auf seiner Aquarellpalette dem Schwarz ein Rot beimischte.

Schwächen kann man in unnatürlich wirkenden Körperhaltungen und Bewegungen erkennen. Grundsätzlich sollte man bei diesem Sujet auch nicht ein beigelegtes Heft mit dem Originaltext lesen müssen, um die (hanebüchene) Handlung komplett zu verstehen.

Dennoch liegt bei den hier vorgestellten bundesdeutschen Preisträgern das wirklich schönste Buch vor, das zu Recht mehrere Nachauflagen erfahren hat.

Vittorio Magnago Lampugnani: Architektur unseres Jahrhunderts in Zeichnungen

Vittorio Magnago Lampugnani:
Architektur unseres Jahrhunderts in Zeichnungen.


Schwerpunkt des Bandes sind monumentale Entwürfe von Wolkenkratzern und Stadtteilen, oft auch in utopischer Form. Es wird also keine Geschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts dargeboten, wie der Titel suggeriert. Dabei ist die Umschlagillustration absolut untypisch für den Inhalt, was immer ein Manko ist.

Bei einem Preis von 78 DM hätte man mehr als nur zwei Farbreproduktionen erwarten können.

Was das Buch vom Handwerklichen her toll macht, ist die Bindung (Fadenheftung). Schlägt man das Werk auf, liegen die Doppelseiten fast völlig plan da. Der Beweis, dass es geht.

Medium Textil. Der Beitrag zur Textilveredelung.

Medium Textil. Der Beitrag zur Textilveredelung.

Es hätte so schön sein können. Leider vermasselt alleine schon das unruhige Schriftbild einen möglichen guten Gesamteindruck.

Die Gill in 14 pt scheint unpassend, weil zu groß, vor allem bei Flatterrand. Man hat den Eindruck, die Schriftgröße wurde so weit hochgesetzt, bis eine bestimmte Anzahl von Seiten gefüllt war. Der Zeileneinzug (viele Absätze bestehen nur aus zwei Zeilen) trägt zum unguten Eindruck bei.

Der Unart, die momentan Mode war, den inneren Seitenrand zu schmal und deshalb leseunfreundlich zu machen, frönt auch dieses Werk. An den außen liegenden Seitenrändern hingegen ließ der Gestalter hingegen jede Menge Platz für Marginalien.

Alles vielleicht auch Geschmackssache. Aber der Fauxpas der in Zeilengröße gesetzten, gleichermaßen als unbeabsichtigter Blickfang wie als Fremdkörper wirkenden dicken schwarzen Balken unter den Titeln ist unverzeihlich. Dieses Urteil gilt nicht dem Designer, der spielen wollte, aber der Jury.

Robert del Tredici: Die Menschen von Harrisburg

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Georgia Lookingbill, staatlich geprüfte Krankenschwester. Hummelstown, 8. Januar 1980.

Robert del Tredici: Die Menschen von Harrisburg

Seit den 70ern hatten Anti-Atomkraft-Bücher Konjunktur und vor allem die linken und „alternativen” Verlage stiegen gerne in das Thema ein. Wer kennt nicht „Friedlich in die Katastrophe” von H. Strohm?

Dieses Buch hier von Robert del Tredici ist der beste Beweis dafür, dass man alles beweisen kann und das Gegenteil von allem ebenfalls. Und dass die Menschen nur glauben, was sie glauben wollen.

Der Report beginnt mit der minutiösen Schilderung des Unglücks im Atomreaktor von Three Misle Island bei Harrisburg im März 1979. Das gelingt durchaus packend und enthüllt, wie komplex und unfassbar dramatisch die Abläufe waren.

Über die Folgen der nur äußerst knapp verhinderten Kernschmelze gibt es bis heute die unterschiedlichsten Aussagen. Wissenschaftliche Mehrheitsmeinung ist, dass Menschen in keiner Weise geschädigt wurden. Es ist auch schwer zu widerlegen, dass die freigesetzte Strahlenmenge nur einen Bruchteil der Dosis ausmachte, die man alleine bei einer Röntgenaufnahme der Zähne abbekommt. Eine kleinere Forschergruppe will aber in dem statistischen Datenmaterial herausgefunden haben, dass es in den Folgejahren zu einer erhöhten Krebsrate bei den im Windschatten des Reaktors lebenden Bewohnern kam.

Schwerpunkt der Dokumentation sind 51 Interviews, überwiegend mit Menschen aus der Umgebung des Unglücksreaktors. Diese Gespräche geben auch aufschlussreichen Einblick in das Alltagsleben einer ländlichen Region der sogenannten Mittelatlantikstaaten. Die Fotos der Interviewpartner sind herausragend und ein Zeitdokument allerersten Ranges. So sahen Amerikaner zu Beginn der 80er Jahre aus, als ein typischer Durchschnitt durch die Bevölkerung des Bundesstaates Pennsylvanien.

Der kanadische Photojournalist Robert del Tredici befragt zwar Atomkraftbefürworter wie -gegner gleichermaßen und lässt alle Richtungen zu Wort kommen, jedoch gelingt es ihm durch eine geschickte Fragetechnik, die Gegner irgendwie glaubhafter erscheinen zu lassen. Was Tredici beabsichtigt, erkennt man auch schon daran, wie er auf den zwischen den Interviews abgebildeten Landschaftsaufnahmen, etwa von den Farmen der befragten Landwirte, immer wieder drohend die Kühltürme des Reaktors in den Himmel ragen lässt.

Was der Verfasser wirklich denkt, enthüllt vor allem das Nachwort zur deutschen Ausgabe, in dem er eine apokalyptische Vision für die Zukunft der Menschheit im Griff der Atomindustrie im Stil der damaligen Zeit zum Besten gibt. Ein eigentlicher Sachkenner ist Tredici nicht. Er hat Philosophie und Literaturwissenschaften studiert und so drehen sich seine Fragen auch hauptsächlich darum, was die Menschen denken und fühlen.

Das Buch an sich ist ein in hohem Maße gelungenes Exempel dafür, wie man eine Sozialdokumentation macht. Vor allem verzichtete die Greno GmbH, die das Werk gestaltete, auf Experimente mit Schrift und Layout. Nur die quasi als Zwischentitel zur Auflockerung stark herausgestellte Nummerierung der Interviews sowie die zur Betonung der Dramatik eingesetzten schwarzen Rahmen der Fotos setzen interessante, aber nicht aufdringliche Effekte.

Einziger Wermutstropfen des Buches ist die nicht gut haftende schwarze Beschichtung des Einbandes (geliefert von der Papierfabrik Iggesund aus Schweden, wie der Katalog weiß). Die schwarze Oberfläche löst sich von der darunter liegenden Pappe schon ab, wenn man sie nur scharf ansieht. Hier waren die Juroren, denen dieser doch für die Bewertung im Wettbewerb erhebliche Makel aufgefallen sein muss, mal wieder sehr großzügig. Das waren sie aber auch nur, wenn sie wollten.

Das Buch verkaufte sich in Deutschland prima. 10.000 Exemplare gingen schnell weg, unter anderem an Bürgerinitiativen (so auch das dem Chronisten vorliegende Exemplar, das der Bürgerinitiative Delmenhorst gehörte). 1986 – passend zu Tschernobyl, denn so geschäftstüchtig war Zweitausendeins – erschien eine zweite Auflage, diesmal auch mit einem anderen Einbandmaterial. Dieses hatte allerdings einen anderen Makel: es wellte sich auf...

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Der Wettbewerb in der DDR

Die schönsten Bücher der DDR 1982

Der Auswahlkatalog kam jetzt endgültig nicht mehr mit dem altmodischen, lappigen Leinenumschlag, sondern als moderne Broschur („Paperback”). Der einfarbige Einband zeigte halbtransparent einige der ausgewählten Bücher – das war eine nette Idee, kostete nicht viel und sollte noch für die nächsten vier Jahre so bleiben. Ob es graphisch überzeugend gelöst war, steht auf einem anderen Blatt.

238 Titel waren vorgelegt worden (1981: 236, 1980: 230). Daraus wurden 49 Bücher ausgewählt.

Bei den mitgeteilten Zahlen zur nationalen Buchproduktion erkennt man eine nun schon seit Mitte der 70er Jahre anhaltende Stagnation. Im Jahr 1982 wurden insgesamt 6130 Titel mit rund 143 Millionen Exemplaren aufgelegt. 1977 waren 6015 Titel bei einer Gesamtauflage von rund 138  Millionen Exemplaren erschienen. In den Jahren dazwischen gab es nur kleine Schwankungen. Dabei unterschied die DDR nicht zwischen Erst- und Neuauflagen. Die Anzahl der Erstveröffentlichungen war also vielleicht sogar rückläufig.

Vergleicht man mit der BRD (weitere Vergleiche in den Vorjahren hier und hier), ergibt sich eine regelrechte Deklassierung der DDR. Von 1977 bis 1982 stieg der Anzahl der in Westdeutschland veröffentlichten Titel von 39.044 auf  48.730 (Erstauflage) bzw. von 48.736 auf 61.332 (Erst- und Neuauflage).

Dass die Buchproduktion eines Landes bei aller methodischen Vorsicht ein Merkmal für die kulturelle Entwicklung eines Landes ist, steht dabei wohl außer Frage.

Auch im Vergleich zum Beispiel mit der Schweiz fiel die DDR mehr und mehr zurück. 1974 war die Auflage neuer Titel in beiden Ländern mit rund 6000 etwa gleichauf, wobei die Schweiz allerdings nur eine etwa halb so große Bevölkerungsanzahl hatte. 1982 produzierte die Schweiz aber bereits 8226 Titel (siehe unten), also über ein Viertel mehr.

Das Vorwort erinnert – was nicht mehr alle Jahre vorkam und auch etwas bemüht wirkte – an die politisch-gesellschaftliche Rolle des Buchkunstschaffens bei der antifaschistischen Grundhaltung der DDR. Anlass für die Ausführungen war die Nachrüstungsdebatte und der bevorstehende Jahrestag der Machtergreifung der Nazis.

Nr. 1 der ausgezeichneten Werke war: „Erich Honecker: Aus meinem Leben”. Es ist schwer, etwas anderes als Servilität darin zu sehen. Auch im Vorwort wurde dieser Titel an erster Stelle erwähnt und als „Spitzenleistung” hervorgehoben.

Bei den einzelnen Literaturgruppen werden im allgemeinen das „hohe gestalterische Niveau” anerkannt, bei nur noch selten angeführten zu verbessernden Details.

Die allgemein angespannte wirtschaftliche Lage der DDR schlägt sich nieder in der Formulierung von „teilweise komplizierten Bedingungen auf dem Materialsektor”. Das heißt, dass es zum Teil schwer war, Papier, Farbe usw. zu bekommen und zwar in guter Qualität. Auch der Ausfall einer Druckmaschine konnte zu schwerwiegenden Folgen führen, wenn Ersatzteile nicht kamen oder nicht bezahlt werden konnten.

Ansonsten sind wie im Westen die üblichen technologischen Entwicklungen zu konstatieren: der Lichtsatz setzte sich unaufhaltsam durch, ebenso der Offset-Druck (jeweils 38 von 49 ausgezeichneten Büchern).

Einen bezeichnenden Unterschied gab es aber beim Einband. Der „Ganzgewebeband” (Leinen) machte beachtliche 32 von 49 Preisträgern aus, broschierte Bände (Taschenbücher/Paperbacks) hingegen nur überraschende 2 (zwei) Titel.

In der BRD wurde 1981 der Anteil mit Ganzgewebebänden mit 18 von 48 Titeln angegeben, aber 19 mal Broschur. (Im BRD-Katalog 1982 wurden vor lauter besinnlichen Reflexionen über den Buchmarkt solche „unwichtigen” Zahlen gar nicht genannt.)

In der DDR zählte also noch das „gediegen” schöne Buch, die Tradition des Buchbinderhandwerks wurde hochgehalten. Das Bild ist aber stimmig mit dem oben Erwähnten. Offenbar gab es in der BRD wesentlich bessere Bedingungen, kurzfristig auf Entwicklungen zu reagieren, ein Taschenbuch zu produzieren und in hoher Auflage auf den Markt zu drücken. Dass die sozialistische Planwirtschaft der DDR das nicht so gut konnte, erst recht unter den schwierigen ökonomischen Bedingungen der 80er Jahre, ist klar.

Allerdings muss beim Vergleich die Auswahlpolitik der unterschiedlichen Jurys berücksichtigt werden. Für das Jahr 1972 (Link) konnte berichtet werden, wie die westdeutsche Jury bewusst die sich schnell und massenhaft verkaufenden Taschenbücher propagierte. Wenn man weiß, dass die Stiftung Buchkunst eine Lobby-Organisation des Buchgewerbes ist, ist der Grund nur allzu naheliegend.

Die inhaltliche Auswahl bleibt langweilig und spießbürgerlich. Vor allem fehlen aufregende Belletristik (die unkonventionellen Autoren vertrieb man ja in den Westen) und neuere Themen. Kritische Umweltbücher sucht man z. B. vergeblich. Ein Anti-AKW-Buch war in der DDR überhaupt nicht vorstellbar. Sexualität kommt, wenn überhaupt, vorwiegend in wissenschaftlich-medizinischer Form vor. Reisebücher wurden kaum aufgelegt, nimmt man die Auswahlkataloge als Maßstab, zu westlichen Zielen naturgemäß schon gar nicht.

Dafür wimmelt es weiterhin in den DDR-Auswahlkatalogen auch der 80er Jahre von Werken über Ton, Porzellan, Kriegsschiffen, Segelschiffen, Spitzen (Stoff), Fabelwesen, Märchen, Weihnachtsgeschichten und dergleichen. Dies alles Beispiele aus dem Jahr 1982.

Wenn das hier vorgestellte Segment des Buchmarktes in bedingtem Maße repräsentativ für die gesamte Literatur und damit für Gesellschaft und Kultur eines Landes war (was die Grundthese des gesamten Projektes ist), dann ergab sich folgendes Bild:

Man lebte in der DDR in gesicherten Verhältnissen und in einem bescheidenen Wohlstand, aber die Kultur war in zunehmendem Maße bieder und langweilig. Alles was wirklich neu, kritisch und anders war, was nicht in die Schablonen einer erstarrten „marxistisch-leninistischen” Dogmatik passte, wurde nicht erlaubt. Dadurch wurden die Unterschiede zur BRD immer krasser und die herrschenden Eliten gerieten zwangsläufig unter immer stärkeren Rechtfertigungsdruck. Wann würde sich das entladen? Es lag weniger weit weg, als wohl irgendjemand gedacht hätte.

Peter Jacobs / Peter Seifert (Redaktion): Mexiko

Peter Jacobs / Peter Seifert (Redaktion): Mexiko

Aus Anlass eines im September 1981 stattgefundenen, großangelegten Staatsbesuches von Erich Honecker in Mexiko aufgelegter Prachtband. Der Besuch in dem mittelamerikanischen Staat war sicher ein großer Erfolg für die DDR-Diplomatie. Die DDR war bei der damals noch herrschenden linksorientierten Elite der mexikanischen PRI hoch angesehen und so wurden die Ostdeutschen mit allen Ehren empfangen. Und der aufwendig hergestellte Bildband tat sein Möglichstes dazu, die guten Verbindungen, auch im Bereich der Wirtschaft und der Kultur, zu unterstreichen.

Leider wird der Wert des Buches dadurch erheblich gemindert, dass die Darstellung der mexikanischen Geschichte und Politik, ohnehin schon strikt nach „marxistisch-leninistischer” Lesart, vermischt wird mit ausgiebigen Einzelheiten des Staatsbesuchs. Da erfährt man in huldvollen Worten etwa, welche Präsente die DDR-Gäste auf den verschiedenen Stationen des Besuchs entgegengenommen haben (vor allem Günter Mittag wurde wohl reich beschenkt) – und das geht Seiten über Seiten. Dazwischen lacht Erich Honecker in selten gelöster Stimmung mit dem mexikanischen Staatschef José López Portillo, der zwei Eigenschaften aufwies: er war tief korrupt und hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Michel Piccoli.

Zu recht sehr ausführlich würdigt der Text die Aufnahme vieler deutscher Emigranten in Mexiko, auch schon 1848 und vor allem während der Nazi-Zeit. Zwar kein Deutscher und man hätte es nicht erwartet, diesen Namen wirklich zu lesen, aber es fehlt Leo Trotzki, der 1940 in Coyoacán von einem stalinistischen Agenten ermordet wurde. Mexiko hatte ihm seit 1937 Asyl gewährt.

Die 253 Farbfotos, effektvoll vor schwarzem Hintergrund präsentiert, entschädigen für einiges. Leider wirken sie etwas hastig aneinandergereiht. Vielleicht hätte man auch mehr als nur zwei Fotografen mitnehmen sollen. Hier hätte auch etwas mehr Text gut getan.

Sehr gute Qualität und hohen dokumentarischen Wert haben Aufnahmen von Menschen: Arbeiter, Bauern, Marktverkäufer, Schüler, Straßenszenen. Man erhält einen guten Eindruck von dem bunten, quirligen Leben in den Großstädten Mexikos und von der als gut entwickelt dargestellten Industrie, wobei von der DDR gelieferte Maschinen natürlich in den Vordergrund gerückt werden. Auch die Landwirtschaft findet breiten Raum, mit so überraschenden Erkenntnissen, dass nicht nur die Früchte, sondern auch die Blätter des Feigenkaktus gegessen werden...

Die Fotos der Maya-Ruinen wirken teilweise eher uninspiriert und manchmal auch technisch schwach, weil man nicht nahe genug herankam.

Mit dem Papier lief etwas schief. Vielleicht war es zu dünn für die satte Farbe, jedenfalls sind viele Seiten gewellt und einige kleben auch aneinander. Durchgängig haben die Seiten zu wenig Rand nach innen. Leider machte auch die DDR bei dieser Unart mit.

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Ein Blick nach Österreich

Die schönsten Bücher Österreichs 1982

Die schönsten Bücher Österreichs 1982

In Österreich stieg die Beteiligung am Wettbewerb nochmals an. Die Anzahl der sich beteiligenden Verlage blieb mit 32 aber gleich.

Diesmal wurden 118 Titel (1981: 100; 1980: 90, 1979: 81) eingereicht. Davon wurden nach wie vor 12 ausgezeichnet. Vielleicht war es an der Zeit, diese strikte Begrenzung auf ein Dutzend aufzugeben. Fragwürdig war es vielleicht auch, von zwölfen noch einmal acht besonders herauszustellen.

Shawn Rice: Vom Vogel Dodo

Shawn Rice: Vom Vogel Dodo
und anderen Tieren, die es nicht mehr gibt
Texte von Paul Rice & Peter Mayle


Eines der schönsten Bücher der hier vorgestellten  Wettbewerbe überhaupt – und auch noch sehr lehrreich.

14 ausgestorbene Tierarten werden hier in Bild und Text vorgestellt. Ausgestorben samt und sonders durch den Menschen, genaugenommen dessen unendliche Dummheit und Gier.

Von erlesener Schönheit sind die ganzseitigen Bilder der (?) Künstlerin Shawn Rice, die leider nur noch mit einer einzigen weiteren Buchveröffentlichung hervorgetreten ist.

Bedauerlich, dass ein solches Buch im bundesdeutschen Wettbewerb nicht zum Zuge kam. Der Annette Betz Verlag mit Sitz in Wien und München bot wohl seine Titel dem bundesdeutschen Wettbewerb nicht oder nicht mehr an und wird gewusst haben, warum. Der Chronist kann es sich vorstellen.

Glück des Sammlers: Ich erhielt für eher kleines Geld ein praktisch neues Exemplar des Buches von einer freundlichen Dame an der holländischen Grenze.

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...was macht die Schweiz?

Die schönsten Schweizer Bücher 1982

Die Unterschiedlichkeit der nationalen Wettbewerbe war immer wieder faszinierend und sagte viel über den Charakter der jeweiligen Länder aus.

So zum Beispiel die Frage: “Woran erkennt man ein schönes Buch?”

In der Bundesrepublik Deutschland machte die Jury des Wettbewerbes in typisch deutscher Manier eine Wissenschaft daraus und definierte nicht weniger als „76 detaillierten Kriterien”, davon alleine 22 Kriterien nur für die Bindung.

In der Schweiz wurde lapidar festgestellt, es müsse “alles stimmen: Gestaltung, Satz, Druck, Papier, Einband.” (Vorwort) Damit machte man es sich vielleicht ein bisschen zu einfach. Aber das Ergebnis gibt der in vielerlei Hinsicht anders strukturierten Vorgehensweise des eidgenössischen Wettbewerbes Recht: Jahr für Jahr wurden “auffallend viele in vorzüglicher Ausstattung” vorgelegte Bücher ausgezeichnet.

309 (Vorjahr: 224) Bücher waren eingereicht worden, 31 davon wurden ausgezeichnet, 20 aus der Deutschschweiz, 9 aus der Westschweiz und 1 aus dem Tessin und 1 aus dem rätoromanischen Sprachgebiet.

Interessant ist eine weitere Zahl: 1982 wurden in der Schweiz insgesamt 8226 Titel aufgelegt, eine erhebliche Steigerung gegenüber den rund 6000 im Jahr 1974.

Marcel Imsand: Paul et Clémence

Marcel Imsand: Paul et Clémence

Sicher eines der schönsten Bücher des Wettbewerbes 1982 in allen hier vorgestellten Ländern.

Es ist die Geschichte von Paul und Clémence, einem steinalten Ehepaar, das abgelegen in einem Haus ohne Strom und fließendes Wasser in der französischen Schweiz wohnt.

Das Buch lebt natürlich von den meisterlichen Fotografien des Marcel Imsand (1929–2017), sehr schön begleitet von den Texten des Verlegers Bertil Galland (*1931). Aber auch das ganze Drumherum: Layout, Druck, Papier, Bindung – alles ist perfekt, hochwertig und sehr ansprechend.

Marcel Imsand war einer der bedeutendsten Schweizer Fotografen des 20. Jahrhunderts. Alleine schon, wie er die wenigen farbigen Aufnahmen in die überwiegend schwarz-weiße Reihe einpasst, indem er ihnen nur einen zarten Hauch eines rötlichen Sepia gibt: einfach großartig.

Bei aller anrührenden Poesie, die Imsand dem Leben der beiden Alten gibt, will er sich als unerbittlicher Beobachter zeigen. Bei den beiden letzten Fotos sieht man auf einmal die oberen Bereiche der Räume. Dort hängen dräuend schwarz und ausladend wie Taue und Fischernetze die über Jahre vom Kamin geschwärzten Spinnweben bis kurz übers Bett und bis auf die Kommode herunter. Beim Betrachter stellt sich blankes Entsetzen ein.

Wenn man es sich genauer überlegt, ist es eigentlich ein unschönes, unpassendes und respektloses Ende. Denn hier stellt Imsand seine Freunde (?) Paul und Clémence als verwahrloste Alte zur Schau. Und das Gruseln, das am Ende der Fotogeschichte erzeugt wird, fällt auf Marcel Imsand selbst zurück.

John Reader: Die Jagd nach den esten Menschen

John Reader: Die Jagd nach den ersten Menschen

Zunächst gilt es festzuhalten, dass dieses Buch vom Handwerklichen her perfekt ist. Alles stimmt bis ins kleinste Detail. Bravo!

Dasselbe lässt sich vom Inhalt behaupten. Der amerikanische Wissenschaftsjournalist John Reader zeichnet kenntnisreich die Geschichte der Suche nach fossilen menschlichen Überresten nach, aus denen sich die Theorien über die Entwicklung der Gattung Homo sapiens entwickelten.

Das liest sich unterhaltsam und spannend wie ein Kriminalroman. Der interessanteste Aspekt ist der Nachweis, wie groß die Rolle des erkenntnisleitenden Interesses bei der Entwicklung von wissenschaftlichen Aussagen ist – nämlich ausschlaggebend.

Das wird an Unmengen von Details deutlich – oft nachträglich auch so komisch, dass man sich fast totlachen könnte, wie heute als abstrus und unhaltbar angesehene Aussagen von bedeutenden, ja den bedeutendsten Forschern ihres Faches mit großer Emphase vorgetragen wurden.

Ganz köstlich ist zum Beispiel das Kapitel über den Neandertaler. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus und erkennt eins: auch Wissenschaftler glauben nur, was sie glauben wollen und lassen sich alles Erdenkliche einfallen, um ihre Theorien zu „beweisen”.

Auch heute gibt es Kontroversen unter den Paläontologen. Die berühmte These, dass wir alle aus Afrika stammen, ist nicht mehr unumstritten, seit in Südeuropa Funde von Urmenschen auftauchten, die wesentlich älter als die afrikanischen sind.

Besonders heftig geht es heute in der Klimadebatte zu. „Klimaskeptiker”, deren es genügend gibt, die auf eine nicht ausreichende Wissensbasis, auf nicht geklärte Widersprüche in den Daten sowie auf die Zweifelhaftigkeit verweisen, Computermodelle als unumstößliche Fakten auszugeben, werden als „Leugner” an den Pranger gestellt, als gehe es um mittelalterliche Glaubenswahrheiten.

Thérèse et Mendel Metzger: La vie juive au moyen age

Thérèse et Mendel Metzger: La vie juive au moyen âge

Neben der Fachexpertise beeindrucken in diesem Band vor allem die sehr zahlreichen Illustrationen. Darin liegt auch eine Besonderheit der Herangehensweise der beiden Kunsthistoriker Thérèse und Mendel Metzger von der Universität Straßburg: sie entwerfen retrospektiv anhand der Bilder in mittelalterlichen hebräischen Schriften das Leben der Juden in West- und Südeuropa. Mit “Mittelalter” ist hier das Spätmittelalter gemeint.

Das Buch ist sehr sorgfältig und mit großem Aufwand produziert.

Interessant ist ein Vergleich mit der deutschen Lizenzausgabe, die 1983 erschien: natürlich dieselben Druckstöcke für die Bilder, das Papier ist auch dasselbe. Der deutsche Verlag wählte aber ein engeres Schriftbild, weil er auf dieselbe Seitenzahl kommen musste. Offenbar wurde der übersetzte Text deutlich länger.

Bereits 1982 erschien auch eine englischsprachige Ausgabe, von Goodreads irrtümlich auf 1988 datiert.

Emil Schulthess: Swiss Panorama

Emil Schulthess: Swiss Panorama

Der großformatige Band bringt 28 Panoramaaufnahmen von bekannten Landschaften und Städten der Schweiz, auf bis zu 4 aufklappbaren Seiten!

Der Aufwand, der betrieben wurde, ist ungeheuer. Nicht nur, was die Aufnahmetechnik betraf, sondern z. B. auch das Filmmaterial. Man muss sich sozusagen vor Augen führen, dass wir hier noch tief im Zeitalter des analogen Films sind. Verwendet wurde 70 mm Rollfilm von Kodak. Bei einer Aufnahme, also einem 360° Schwenk, belichtete man 300 mm Film. Extrem wichtig war es natürlich, die Kamera absolut stabil und erschütterungsfrei unter dem Hubschrauber aufzuhängen. Die Kälte von bis zu – 40° bereitete ebenfalls Probleme. Der Hubschrauber flog bis zu 6200 m ü. M.

Der hier schon 1955 und 1958 vorgestellte Fotograf Emil Schulthess (1913–1996) braucht 4 engbedruckte Seiten, um alles zu beschreiben, was er mit seinem Team unternehmen musste, um die Aufnahmen zu machen. Nicht viele Fotografen waren in der Lage, eine solche Herausforderung zu meistern.

Das Buch ist handwerklich makellos gemacht (außer dass der Schutzumschlag am Rücken lappig ist).

Die Jury schrieb: „Die Problematik des extrem großen Breitformates wird durch die Reproduktionen und die Drucktechnik brillant gelöst.”

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Hochgeladen am 5. Februar 2020. Zuletzt aktualisiert am 30. Juli 2023.

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Die auf dieser Seite vorgestellten Bücher wurden geliefert von: Buch-Galerie Silvia Umla (Auswahlhefte BRD und DDR), Eichhorn Buch (Amsterdam), Antiquariat Schaffernicht, Schwäbisch Gmünd (Kirsch), Antiquariat Tom Erdlen, Untersteinach (Liebes Leben; Architektur unseres Jahrhunderts), Antiquariat Wolfgang Rüger (Fliegenpapier), Buchantiquariat Nachlese, Detmold (Deutsche Kunst), Antiquariat LibroBase (Harrisburg), Antiquariat Frankenthal (Textil), Liwall Bücher (Mexiko), Bonner Bücherkiste (Erste Menschen), Libretto Antiquariat, Langnau (Paul et Clémence), medimops (La vie juive).

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