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Krisen und Kriege bestimmten das Jahr 1991. Nach einem misslungenen Putsch gegen Gorbatschow zerfiel die Sowjetunion endgültig. Eine Folge des Zusammenbruchs des Ostblocks war auch die Auflösung des Vielvölkerstaats Jugoslawien, die sich in einer Kette von blutigen Bürgerkriegen vollzog. Der Zweite Golfkrieg beendete binnen Monaten die Annexion Kuwaits durch den Irak.

Das Jahr “1” nach der deutschen “Wiedervereinigung” war durch die zügig vollzogene Übertragung bundesdeutscher Regelungen auf die nun “neue Bundesländer” genannte DDR gekennzeichnet. Helmut Kohl wurde vom Bundestag erneut zum Kanzler gewählt, sonnte sich in seinem Erfolg und fabulierte weiter von den “blühenden Landschaften” in der ehemaligen DDR.

Das vielleicht bedeutendste Ereignis in der Wissenschaft und Geschichte war der Fund einer überraschend gut erhaltenen Leiche in einem Gletscher der Alpen. Der vor über 5000 Jahren gestorbene Mann, liebevoll “Ötzi” genannt, gab einmalige Einblicke in das Leben der Menschen in der Steinzeit, das sich als viel “moderner” und fortgeschrittener erweisen sollte, als man vielfach dachte.

Die schönsten deutschen Bücher 1991

Es soll an dieser Stelle darauf verzichtet werden, wie üblich Vorworte und Einleitungen zum Katalog zu analysieren. Löblich festzuhalten bleibt aber, dass zum ersten Mal seit 1951 die Mitglieder der Jury und Vorjury mit mehr als ihrem Namen, nämlich mit kurzem Werdegang und ihrer Funktion in der Branche vorgestellt werden, das Ganze unterlegt mit einer Foto-Dokumentation der Beratungen.

Die Bücher erhielten nun wieder Farbwiedergaben, jedenfalls vom vorderen Einband bzw. Umschlag. In der Regel wurde noch eine Doppelseite abgebildet, diese aber immer in Schwarz-Weiß.

Was die Buchgestalter sich aber „kreativ” einfallen ließen, war schon krass. Jeder prämierte Titel wurde auf zwei Seiten des Kataloges vorgestellt, aber nicht auf zwei gegenüberliegenden Seiten, sondern man musste umblättern. Klar, man wollte damit das Aufschlagen der Bücher simulieren – man hätte das aber sein lassen sollen.

Genauso wenig entspricht eine kleine, eng gesetzte schwarze Serifenschrift auf satt türkisfarbenem Papier den grundlegendsten Regeln der Lesbarkeit, die von der Jury sonst immer so hochgehalten wurden – aber wohl nur für andere.

Der Katalog hat einen lustigen Umschlag, auf dem kleine Comic-Figuren zeigen, was man alles mit einem Buch machen kann, zum Beispiel als Regenschirm nutzen. Lesen hingegen kommt bei den vielen Möglichkeiten nicht vor.

Kurios war, dass Portugal zum ersten mal im Wettbewerb auftauchte (im Gegensatz zum DDR-Wettbewerb und wahrscheinlich als das einzige bis dahin komplett vernachlässigte europäische Land) – und das gleich mit zwei Titeln. „Gastland” der Frankfurter Buchmesse hätte es erklären können, das war Portugal aber erst 1997. Irgendwas anderes musste passiert sein.

Immer größeren Raum auf den Auswahllisten nahmen Bücher ein, die etwas mit Computern zu tun hatten. Dass dabei Veröffentlichungen um den Mac von Apple im Vordergrund standen, war aufgrund der Dominanz dieses Herstellers im Bereich des Grafik Design und des entstehenden Desktop Publishing verständlich.

Dabei unterlief der Jury aber schon wieder der Lapsus, die Taschenbuch-Ausgabe eines vorher erschienenen gebundenen Buches als eines der „schönsten deutschen Bücher” auszuzeichnen (siehe unten). Unfassbar.

46 von 657 eingereichten Titel wurden ausgezeichnet.

Ydo Sol: Faces of Jazz

Ydo Sol: Faces of Jazz

Der Fotograf Ydo Sol war Jazzfan. In der Portraitsammlung „Faces of Jazz” (die doppelte Wortbedeutung ist offenkundig) kombinierte er also zwei Leidenschaften. Der hier bereits vorgestellte Nieswand Verlag brachte eine dritte hinzu: außergewöhnlich gute Bücher zu produzieren.

Ydo Sol berichtet im Nachwort, dass die meisten Musiker sich erst nach den Konzerten portraitieren lassen wollten, wofür in der Regel nur ein paar Minuten zur Verfügung standen. Eine Ausnahme war zum Beispiel Pat Metheny, den Sol schon beim Warmspielen fotografieren durfte und der so freundlich und gelassen wirkt wie seine Musik. Geld wollte keiner außer Miles Davies, dessen Agent 10.000 Dollar forderte und der deshalb nicht in die Sammlung aufgenommen wurde. Aber auch ein Star wie John McLaughlin setzte sich bereitwillig zu ein paar Aufnahmen hin.

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Höchst erstaunlich ist es, wie Sol es schaffte, in der nur kurzen für die Portraits zur Verfügung stehenden Zeit eine Atmosphäre herzustellen, die das Typische für die Persönlichkeit der jeweiligen Musiker hervorbringen konnte. Geholfen hat dabei sicher die Tatsache, dass der Fotograf die meisten Musiker von ihren Platten bereits kannte und schnell mit ihnen ins Gespräch kommen und Vertrauen aufbauen konnte.

Für die Aufnahmen musste Sol auch Vorbereitungen treffen, irgendwo in der Nähe der Bühne und der Künstlerräume ein kleines „Studio” mit Rückwand, Beleuchtung, Stativ aufbauen etc. Er machte jeweils nur einige wenige Aufnahmen. Dass die „was wurden” – dazu gehörten viel Erfahrung und viel Talent.

Alleine schon das Arbeitspensum von Ydo Sol war überwältigend. Er besuchte in etwas mehr als einem Jahr rund 100 Jazzkonzerte, also zwei pro Woche, die meisten davon in Nordrhein-Westfalen, einige aber auch in Berlin und in den Niederlanden. Er hörte natürlich die Konzerte, was bei Jazz auch eine intellektuelle Herausforderung sein kann und in der Häufung wohl nur möglich war, weil Jazz-Konzerte nicht in der ohrenbetäubenden Lautstärke gegeben werden wie Rock.

Die entstandene Kollektion ist einzigartig, nicht nur von ihrem hohen künstlerischen Wert her, sondern auch als Dokumentation der Jazzmusik im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Ydo Sol ist es gelungen, einen großen Teil der in diesem Zeitraum bedeutenden Jazz-Künstler der verschiedensten Stilrichtungen professionell zu fotografieren. Sol nahm noch Material für ein zweites Buch auf, leider kam die Veröffentlichung aber nicht zustande – ein Jammer! Einige der Portraits lassen sich jedoch über Sols Website aufrufen http://www.ydosol.com/polaroid/*.

Bemerkenswert und überraschend ist auch, was mit Sofortbild möglich war. Sol benutzte die Polaroid Automatic 103 Land Camera 8,5 x 10,8 cm und die Polaroid 600 SE 6 x 7/9 cm, natürlich mit Schwarz-Weiß-Filmen. Das Buch ist auch als Dokumentation der Polaroid Fototechnik anzusehen.

Als handwerkliches Produkt ist der großformatige Band makellos, kostete aber auch beachtliche 98,00 DM.

Reinhardt Hess / Sabine Sälzer: Die echte italienische Küche

Reinhardt Hess / Sabine Sälzer:
Die echte italienische Küche

Volltreffer.

Das ist hohe Kunst, nicht nur der Küche, sondern auch der Fotografie und der Buchkunst.

Als Kochbücher immer opulenter, graphisch aufwendiger und teurer wurden, etablierte sich mit „Food Photography” ein eigener Bereich der Fotografie, ging es doch um ganz spezielle Vorbereitungen, die zu treffen waren, und um ein eigenes Prozedere (weniger um nur hier geltende Aufnahmetechniken). Insbesondere mussten die Gerichte, welche in der Regel nicht von den Fotografen selbst zubereitet wurden, richtig in Szene gesetzt und genau im richtigen Moment abgelichtet werden. Fertige Gerichte verändern ihre Oberflächeneigenschaften sofort und merklich, wenn sie abkühlen oder abstehen.

„Die echte italienische Küche” setzte schon 1991 Maßstäbe, die kaum noch übertroffen werden konnten und wurde deshalb auch mit zahlreichen Neuauflagen immer wieder neu gedruckt. 2002 erschien zum Beispiel die 25. (!) Auflage.

Sehr überzeugend, wie bei den Aufnahmen dieses Buches mit Beleuchtung inkl. dem sehr effektvollen Schattenwurf, Blickwinkel,

durchgehender Schärfentiefe (hier besser als begrenzte Schärfentiefe) etc. umgegangen wird. Dabei nehmen die Gerichte, teilweise in mehreren Zubereitungsschritten dokumentiert, eine Farbigkeit, Brillanz und Plastizität an, die – auch was den Druck anbelangt – kaum glaublich ist.

Ihr Pendant haben die Gerichte in sehr fachkundigen Beschreibungen der verschiedenen Regionen Italiens, ihrer Lebensart, ihrer landwirtschaftlichen Produkte und ihrer typischen Zubereitungsformen. Auch dieser Teil des Buches ist außergewöhnlich ansprechend aufgemacht und fotografiert.

Kein Wunder, dass ganze Heerscharen von Mitarbeitern mit der Zusammenstellung des Buches beschäftigt waren. Die beiden Fotografen Pete und Susanne Eising standen sozusagen nur am Ende der Kette. Ihre Kunst war aber natürlich entscheidend für den Erfolg des Buches, obwohl sie auf dem Umschlag nicht mal als Hauptautoren des Werkes genannt werden.

Der bisherige Favorit des Chronisten, „Das große Italien Kochbuch”, 1990 herausgegeben von der Zeitschrift „essen & trinken”, schneidet im Vergleich deutlich schlechter ab und eigentlich in jeder Hinsicht.

Nur eins: mit Hunger im Bauch darf man das Buch nicht durchblättern. Sonst wird man wahnsinnig.

Und noch was. Hat man das alles erst mal gesehen, weiß man leider, was man „beim Italiener”, selbst „beim Edel-Italiener” vorgesetzt bekommt: einen faden Abklatsch.

Anna Wagner / Guido Englich: Mac Reiseführer
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Kennen wir nicht.

Eins der schönsten Bücher!

Anna Wagner / Guido Englich: Mac Reiseführer.
In 6 MacTouren vom Einstieg bis zur Computergrafik.

Die Apple Macintosh Mini Computer waren viele Jahre den IBM-kompatiblen Personal Computern bei den Möglichkeiten des Grafikdesigns voraus, sieht man von der 1989 begonnenen Aufholjagd des kanadischen Softwareherstellers Corel (= Cowpland Research Lab) ab – waren aber auch immer deutlich teurer als die PC-Systeme.

Das im Original 1989 im Systhema Fachverlag erschienene Buch zeigt auf, was zu dieser Zeit auf den bis dahin verfügbaren Modellen des Macintosh (bis zum Mac II) an Grafik- und Layoutarbeiten möglich war. Dabei werden Lektionen mit hauseigenen Apple- als auch mit Anwendungen anderer Anbieter angeboten. Einige Programme, die damals in der ersten oder zweiten Version auf dem Markt waren, werden heute (2021) noch eingesetzt wie XPress (hier X-Press geschrieben), andere wurden irgendwann von ihren Herstellern verkauft oder aufgegeben wie Freehand oder Pagemaker.

Der Text des Taschenbuchs wurde zwar komplett neu gesetzt und teilweise erweitert. Aber einige Lektionen wie fast alle Grafiken wurden auch übernommen. Dennoch ist es im Prinzip dasselbe Buch. Die als Buch minderwertige Paperback-Ausgabe ist alles andere als “schöner”, “wertiger” oder “besser” als die gebundene Hardcover-Ausgabe und hätte deshalb niemals zur Auszeichnung kommen dürfen. Aber Rowohlt als einer der größten und umsatzstärksten Verlage spielte sicher eine ganz andere Rolle im Börsenverein, dem Hauptträger der Stiftung Buchkunst, als der vergleichsweise völlig unbedeutende Spartenverlag Systhema, der in den 90er Jahren hauptsächlich die damals beliebten CD-ROM auf den Markt brachte und im Jahr 2000 verkauft wurde.

Leider ein weiteres Beispiel für das eigenartige Treiben der Stiftung Buchkunst, das aber im nächsten Jahr noch ein Nachspiel haben sollte.

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Ein Blick nach Österreich

Die schönsten Bücher Österreichs 1991

Die schönsten Bücher Österreichs 1991

In Österreich wurden nur 75 Titel (Vorjahr: 86) eingereicht. Die Gesamtheit aller in Österreich aufgelegten Buchtitel im Jahr 1991 ist dem Chronisten zwar nicht bekannt, dennoch sind es über die Jahre bedenklich geringe Zahlen, die befürchten lassen, dass ein erheblicher Anteil der “schönen Bücher Österreichs” von den Juroren erst gar nicht erblickt wurde.

Ausgezeichnet wurden 12 Bücher (Vorjahr: 11). Es war einigermaßen schwierig, etwas zu finden, was sowohl persönlichen Interessen entsprach, als auch repräsentativ für den österreichischen Buchmarkt zu sein schien.

Inge Morath u. a.:Salzburg. An Artist's View.

Inge Morath u. a.: Salzburg. An Artist's View.

Annähernd die Hälfte der in den Band aufgenommenen Fotografien stammen von Inge Morath (1923–2002), sicher eine der bedeutendsten Foto-Künstler/innen des 20. Jahrhunderts.

Technische Perfektion, das Auge und auch der Witz dieser Aufnahmen sind es die Mühe wert gewesen, das Buch zu finden (und auch noch weitere Bücher der in Graz geborenen Frau des Schriftstellers Henry Miller zu entdecken). Vertreten und typisch für den Stil von Inge Morath sind hauptsächlich Portraits von Menschen in ihrer Umgebung, die einem hier Salzburg näher bringen.

Der Rest des Buches... oh je!

Es fängt schon an mit der missratenen Umschlagillustration. Das für den Inhalt nicht repräsentative Foto. Das affektierte Englisch des Untertitels(auch sachlich irreführend, weil vier Fotografen vertreten sind). Die unleserliche Schrift, im Original noch schlechter als auf der digital fotografierten, die Kontraste betonenden Abbildung. Zudem war auch das Material des Schutzumschlags minderwertig, weil es sich wellte.

Die anderen drei Fotografen waren leider Vertreter der „Gegenwartsfotografie”, die zu Beginn der 90er Jahre verstärkt Einzug auch in die Wettbewerbe von Österreich und der Schweiz Einzug hielt, nachdem diese lange weitgehend verschont worden waren.

Diese Bilder changieren zwischen völliger Bedeutungslosigkeit und Hässlichkeit, ja sind teilweise geradezu abstoßend. Zwei Bilder sind übrigens rein schwarz.

Unverständlich, dass Frau Morath sich für so was hergegeben hat.

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...was macht die Schweiz?

Die schönsten Schweizer Bücher 1991

Die schönsten Schweizer Bücher 1991

201 Titel waren eingereicht worden. 22 davon wurden ausgezeichnet. Mit diesen Zahlen lag man etwa im Bereich der Vorjahre.

Die Unzulänglichkeiten des Katalog-Layouts blieben. Und nicht nur des Layouts. Der Katalog ist durchsetzt von zahlreichen Fehlern und Unstimmigkeiten bei den bibliographischen Angaben.

Das Vorwort von Beat Kölliker, Vertreter des   Schweizerischen Buchhändler- und Verleger-Verbandes, fing mit folgenden Worten an: “Das Buch ist der Dritte im Bunde. Die intime Zwiesprache zwischen Leser und Inhalt käme ohne diesen Dritten nicht zustande.” Der Rest der Ausführungen verblieb in diesem Stil.

Im Schweizer Wettbewerb waren immer schon Bildbände sehr stark vertreten. Das änderte sich auch 1991 nicht, war aber inzwischen bei allen hier vorgestellten Ländern so. Auf einen Unterschied zur BRD wird beim unten vorgestellten Buch eingegangen.

Ignes Ponto: Sie kamen mit Rosen in der Hand... Lebens-Einschnitte.

Ignes Ponto:
Sie kamen mit Rosen in der Hand...
Lebens-Einschnitte.

„Sie kamen mit Rosen in der Hand” ist die von ihr selbst aufgeschriebene Lebensgeschichte von Ignes Ponto geb. von Hülsen (1929–2020), der Frau des von RAF-Terroristen ermordeten Bankiers Jürgen Ponto. [Der Chronist hält an der Einschätzung der Tötung des Jürgen Ponto als „Mord” fest. Auf einen Mann gezielt und aus nächster Nähe mehrere Schüsse auf Kopf und Körper abzugeben, nachdem er sich nicht entführen lassen wollte, und dies danach auch noch mit eigenen Worten als „Hinrichtung” zu zelebrieren, kann nicht im Ernst als „versuchte Entführung mit Todesfolge“ eingeordnet werden, wozu die Staatsanwaltschaft sich verstieg.]

Dass dieses Buch nicht im deutschen Wettbewerb erschien, obwohl hier eine Deutsche die Geschichte einer deutschen Familie in Deutschland schrieb, ist leider nicht verwunderlich. Selbst wenn ein deutscher Verlag diese Lebenserinnerungen gedruckt hätte und selbst wenn der Verlag das Buch der Jury vorgelegt hätte, ist eine Auszeichnung der Titels als unwahrscheinlich anzunehmen. Das ist jedenfalls die Ansicht des Chronisten.

Zu stark war die RAF-Romantik bei der Mehrheit der deutschen Intellektuellen verbreitet und sollte auch nie gänzlich ausgerottet werden. Zu sehr glaubte die an den linken Universitäten ausgebildete intellektuelle Szene, bei der RAF sei es nur um die „falschen Mittel” gegangen.

Und war dieses Buch nicht irgendwie „rechts”? Obwohl Anfang der 90er Jahre „rechts” noch nicht mit „rechtsextrem” gleichgesetzt und aus dem Bereich der zulässigen politischen Richtungen ausgegrenzt wurde – das würde erst 20 Jahre später ein überragender Erfolg der Linken werden und vielleicht ihr größter und genialster – , musste es der intellektuellen Linken doch irgendwie unangenehm sein. Diese alte preußische Adelswelt, aus der Ignes Ponto kam... ein Onkel von ihr war zwar Begründer einer Widerstandsgruppe, des Kreisauer Kreises – aber waren diese Adligen nicht eigentlich alle Ausbeuter und Militaristen? Und ihr Mann Jürgen Ponto... wohl ein sehr gebildeter Mann – aber war das nicht ein übler Kapitalist? So mögen die Gedankengänge gewesen sein oder so hätten sie ausgelöst werden können.

So erschien das Buch also in der Schweiz, und zur freiheitlichen Tradition der Schweiz passte es auch.

Der Lebensbericht der Ignes Ponto ist zutiefst anrührend und auch gut geschrieben. Sehr anschaulich und interessant gelingt die Schilderung ihrer Kindheit, bei der diese 1945, aber vielleicht auch schon 1933 untergegangene Adelswelt wieder lebendig wird, und alles, was diese bedeutete im Alltagsleben. Die Erziehung der Kinder, die Feste, das Musizieren, all das.

Dann der grausame Tod der Eltern bei einem Bombenangriff, die Vertreibung, die unruhigen ersten Jahre in Westdeutschland und endlich das Zusammentreffen mit Jürgen Ponto.

Der Schock des gemeinen Mordes in Oberursel, gar nicht mal so weit von dem Platz, an dem der Chronist jetzt sitzt und an dem er auch am 30. Juli 1977 saß, trifft den Leser noch immer, fast 45 Jahre danach.

Im Vergleich dazu fällt der Text von Frau Ponto bei der Behandlung der politischen Ereignisse der „Wende” und der „Wiedervereinigung” etwas ab. Auch die Charakterisierung der Persönlichkeit ihres Mannes überzeugt nicht restlos, da er ja doch nicht nur Philosoph, Förderer der Künste und „Europäer” war.

Ignes Ponto gab ihr Bundesverdienstkreuz 2008 zurück, als der Film „Der Baader Meinhof Komplex” in die Kinos kam, weil sie ihn respektlos gegenüber den Opfern fand.

Dass die RAF-Terroristin Susanne Albrecht, die vom Ehepaar Ponto mehrmals als Gast bei sich zu Hause aufgenommen worden war und deren Beteiligung am Mord als besonders heimtückisch bezeichnet werden muss, die zudem zwei Jahre später bei dem fehlgeschlagenen Attentat auf den NATO-Oberbefehlshaber Haig erneut töten wollte, schon im Jahre 1993, also nur 16 Jahre nach der ersten und 14 Jahre nach der zweiten Tat, an einer Bremer Schule als Lehrerin angestellt wurde, ist dann allerdings erschütternd und lässt schwere Zweifel an dem Wertgefüge aufkommen, das dem Handeln der Staatsorgane in der Bundesrepublik Deutschland zugrunde liegt.

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Hochgeladen am 20. September 2021. Zuletzt aktualisiert am 2. August 2023.

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Die auf dieser Seite vorgestellten Bücher wurden geliefert von: Antiquariat Heiner Henke (Italienische Küche), medimops (Jazz), medimops (Ponto).

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