1964. Ein eher ruhiges Jahr des Übergangs in der deutschen Geschichte. Aber ein ereignisreiches Jahr im Sport: die Fußball-Bundesliga beendete ihre erste Saison 1963/64. Meister wurde der 1. FC Köln. In Tokio fanden die Olympischen Sommerspiele statt und das fernöstliche Land geriet zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder stark in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Bei den drei hier vorgestellten Buch-Wettbewerben fand dies erstaunlicherweise gar keinen Widerhall.
In der populären Musik war 1964 das Jahr des großen Durchbruchs der Beatles. Auf dem bundesdeutschen Buchmarkt – soweit er sich im Wettbewerb der schönsten Bücher widerspiegelt – merkte man von einem kulturellen Aufbruch hingegen gar nichts. Im Gegenteil gab es seit 1951 keinen langweiligeren Jahrgang. Ganz anders im Buchmarkt der DDR, wo sich sehr viel bewegte. Der umstrittene Band “Nachricht von den Liebenden” mit moderner Poesie und mit frechen, frisch wirkenden Fotos ausgestattet, war ein Beispiel dafür. Allerdings sollte der rasante Fortschritt in der DDR bald jäh beendet werden.
Die schönsten deutschen Bücher 1964 (Auswahlheft)
Das bundesdeutsche Auswahlheft kommt letztmalig im klassischen Taschenbuchformat, englische Broschur,
hell-ockergelber Einband.
Das Vorwort von Kurt Georg Schauer ist wieder kurz. Immerhin enthüllt es eine grundlegende Neuerung: ab
diesem Jahr war bei den Abstimmungen der Jury nicht
mehr Einstimmigkeit erforderlich, sondern es genügte eine “qualifizierte Mehrheit”. Der legendäre Hermann Zapf war nun Vorsitzender der Jury.
Die Zahl der Anmeldungen wird geheimniskrämerisch nicht genannt, sie sei aber gegenüber dem Vorjahr um fast 25 % gestiegen. Zum letzten Mal waren 1961 die eingereichten Bücher mit 530 beziffert worden. Und sei zuletzt die Gruppe der wissenschaftlichen Bücher sehr stark repräsentiert gewesen, sei es dieses Mal die “schöngeistige Literatur”.
Neu war die Vorauswahl durch eine eingesetzte Arbeits-
gruppe, die Bücher wegen technischer Mängel gleich aus
dem Wettbewerb nahm.
Über die Gründe, warum gerade die 45 diesmal ausgezeichneten Bücher ausgewählt wurden, schweigt
sich die Jury konsequent aus. Es gibt einige Gedichte-Bände, gesammelte Werke der Klassiker, teure bibliophile Drucke für einen begrenzten Leserkreis. Insgesamt ein tristes Bild, gerade im Vergleich mit der hochinteressanten und kreativen Auswahl in der DDR, die sich im innerdeutschen Systemvergleich langsam an die Spitze setzte.
Immerhin ist das Layout des Heftchens endlich wieder übersichtlich.
Amrum. Geschichte und Gestalt einer Insel.
Diese ausführliche Landeskunde der Nordsee-Insel Amrum wurde in vorzügliche, kompakte und robuste Form gebracht. Die einzelnen verständlichen Beiträge dienen zum vertieften Studium von Geschichte, Kultur, Geographie, Flora und Fauna.
Besonders hervorzuheben sind die sehr guten Schwarz-Weiß-Fotografien, einige davon hervorragend in Bildausschnitt, Gestaltung, Schärfe und Durchzeichnung. Die meisten Fotos und einer der Beiträge stammen von Georg Quedens von Norddorf auf Amrum.
Leider sind Karten von Amrum ausschließlich im Innenteil vorhanden. Der Satzspiegel fällt dadurch negativ auf, dass keine Absatzabstände vorgesehen sind. Auch müsste natürlich der Abstand zwischen Zwischentitel und vorhergehendem Absatz größer sein als zu dem folgenden. Hier erscheint er fast sogar kleiner. Die Seitenränder sind etwas sehr schmal.
H. Th. Musper: Der Holzschnitt in fünf Jahrhunderten
Vorzügliche Edition in einem großformatigen Wälzer.
Das Werk des Kunsthistorikers und Museumsdirektors Heinrich Theodor Musper lässt keine Wünsche offen. Die meisten Abbildungen sind schwarz-weiß, was damals preislich nicht anders möglich war. Einige hochwertige Farbabbildungen wurden als Tafeln eingehängt. Hochinteressant sind auch
die neueren Holzschnitte – also keine Technik des Mittelalters.
Alle Reproduktionen sind technisch hervorragend. Das Buch wiegt zweieinhalb Kilo und kostete 1964 für die damalige Zeit sehr teure 89 DM. Verkauft hat sich die vielleicht zu hohe Auflage von 4200 nicht sehr gut. Die Flut von antiquarisch noch erhältlichen Exemplaren ist ein Hinweis darauf. Das abgebildete Exemplar konnte ich neuwertig und völlig unberührt im Schuber zu einem einstelligen (!) Preis erwerben.
Langsam setzte sich bei den Verlagen die Erkenntnis durch, dass sich ein hellerer, lichterer Satz mit breiten Rändern und genügend Durchschuss (Zeilenabstand) einfach besser liest. Wie im Lehrbuch haben wir hier einen “betont schmalen Satzspiegel in Verbindung mit Abbildungen”. Die eine pro Seite vorhandene Textspalte wurde jeweils nach außen gerückt.
Mit dem trüben und für den Inhalt untypischen Schutzumschlag hat sich der Verlag allerdings keinen Gefallen getan.
Marie-Luise Pricken und Dieter Gasper:
Opa Schanghai
Man fragt sich inzwischen, ob es gerechtfertigt war, dass der Sigbert Mohn Verlag zum fünften Mal in Folge mit einem Bilderbuch ausgezeichnet wurde. Handwerklich nach wie vor in bekannter und bewährter Manier, ja.
Und der Inhalt? Die Geschichte von Dieter Gasper ist pädagogisch wertvoll, aber der Stil der Illustratorin Marie-Luise Pricken wirkt doch krakelig, grell und teils skizzenhaft. Und wo in der “blauen Kugel” die große Phantasie der Künstlerin der Geschichte noch angemessen war, entfernt sie sich hier mit ihren Drachen und Blumenbuketts doch arg weit vom Inhalt. Und die grimmig schauenden Gesichter mit den schwarzen Augenhöhlen wollen auch nicht überzeugen.
Der Wettbewerb in der DDR
Die schönsten Bücher der DDR 1964
Dieses Mal liegt dem Chronisten nur die broschierte Ausgabe des Auswahlbandes vor, die inhaltlich aber mit der gebundenen Version identisch ist.
Vorwort und Bericht der Jury sind in diesem Jahr schon beinahe kurz und fast völlig ideologiefrei. Es wird sogar ganz offen dem bibliophilen Buch gefrönt! Eine erstaunliche Entwicklung.
Von 252 vorgelegten Titeln wurden genau 50 ausgewählt. Dabei sei es erneut zu vielen Diskussionen und Kampfabstimmungen gekommen. Mehrmals gab es nur eine Stimme Mehrheit oder gar Stimmengleichheit (der Vorsitzende Albert Kapr entschied dann). Bei den Entscheidungsverfahren durften Gäste der Verlage anwesend sein und sich auch zu Wort melden – eine Transparenz, die im Westen undenkbar war.
Sehr offen werden auch bestehende Probleme der Papierqualität, die sich sogar verschlechtert habe, und der Druckverfahren angesprochen.
Insgesamt erkennt die Jury aber über alle Buchgattungen hinweg weitere Qualitätssteigerungen. Insbesondere ist man zufrieden, dass sich die Belletristik, insbesondere die „sozialistische Gegenwartsliteratur”, stark verbessern konnte. Interessant sind auch die Informationen über die Zusammenarbeit mit den Verlagen.
Zu erwähnen ist noch, dass der Kinderbuchverlag mit 5 Auszeichnungen am erfolgreichsten war.
Aber erneut – man glaubt es kaum – haben die Abbildungen der Bücher im zweiten Teil des Bandes (teilweise Doppelseiten mit 4 Abbildungen pro Buch) in einigen Fällen eine andere Reihenfolge als im Besprechungsteil.
Gisela Steineckert (Hg.): Nachricht von den Liebenden
Dies ist mit das schönste Buch der diesjährigen Wettbewerbe der deutsch-
sprachigen Länder. Nur der Schutzumschlag ist etwas zu düster geraten, wie auch Teile der Jury meinten. (Und auch arg frivol.) Besser wäre es gewesen, eine der im allgemeinen sehr gelungenen Schwarz-Weiß-Fotografien zu nehmen, mit denen das Buch illustriert ist und von denen es lebt.
Überwiegend waren es Fotografen um Wolfgang G. Schröter, die sich bereits in den 50er Jahren in der Gruppe “action fotografie” zusammengeschlossen hatten. Die Gruppe wurde 1957 aus politischen Gründen aufgelöst, weil sie sich dem Dogma des “sozialistischen Realismus” nicht unterwarf. Die Vorwürfe gingen in dieselbe Richtung wie gegenüber kreativen Schriftstellern (“Formalismus” etc.).
Am besten sind die Fotos von Elisabeth Meinke. Frappierend, wie einen auf der S. 16 beim Umblättern die dunkelhaarige Frau ins Gesicht schaut. Auch Rosel Jaeger-Bock und andere liefern ansprechende, frische Bilder. Auch eine für die damaligen Verhältnisse schockierend offenherzige, erotische Aufnahme wurde untergebracht. “Pornographie!” tobte Erich Honecker zwei Jahr später auf dem “11. Plenum”.
Die Gedichte haben unterschiedliche Qualität, wie der Klappentext von Gisela Steineckert schon feststellt. Man wollte aber ausdrücklich die jungen und unverbrauchten Dichter aufnehmen. Am besten sind die Texte von Sarah Kirsch und Volker Braun. Und tatsächlich kann man dem Anhang entnehmen, dass diese beiden, wie auch Wolf Biermann und wie sie alle heißen, die nachher zu Rang und Namen kamen, im Jahre 1964 noch – als Studenten eingeschrieben waren.
Beim herrschenden SED-Apparat machte Gisela Steineckert sich mit dem Buch nicht gerade beliebt, weil sie neben Werken von unliebsamen Fotografen auch Gedichte von kritischen Schriftstellern wie Biermann und Kunert aufnahm.
Briefe von Dunkelmännern
Die Dunkelmännerbriefe waren ein politisches Instrument der deutschen Kirchenkritik. Sie wurden von den Humanisten 1515 und 1517, auf dem Höhepunkt der Angriffe der klerikalen Reaktion gegen Johannes Reuchlin, formuliert und in Umlauf gebracht.
In köstlicher Art wird hier der unsittliche und ausschweifende Lebenswandel der Pfaffen auf’s Korn genommen. Ernster Hintergrund der Auseinander-
setzungen war allerdings, dass Reuchlin der Scheiterhaufen drohte.
Das humanistische Erbe der deutschen Geschichte wurde von der DDR hochgehalten, wenn auch oft in etwas verkürzter geschichtsphilosophischer Sicht.
Durchaus gelungen jedoch das Vorwort von Wolfgang Hecht.
Das sehr hübsch gemachte, fest gebundene Buch im kleinen Oktavformat mit für das Thema idealem Satzspiegel, mit hellblauem Kopfschnitt und Lesebändchen liegt mir so gut wie neu vor. Der farbige Schutzumschlag ist aber nicht breit genug geraten und die kongenialen Holzschnitte von Hans-Joachim Behrendt sind leider zu klein abgebildet und deshalb halb verschenkt (die Jury sah es anders). Dies ist unverständlich, weil meistens noch sehr viel Platz auf den Seiten vorhanden ist.
Ein Blick nach Österreich
Die schönsten Bücher Österreichs 1964
Das Heft erscheint wieder in englischer Broschur im Querformat und mit einem Prägedruck auf dem Titel.
An mehreren Anzeichen erkennt man, dass 1964 Bewegung in den österreichischen Buchmarkt kam.
Die Anzahl der eingereichten Bücher ist erneut angestiegen, diesmal von 79 auf 94. Ausgewählt wurden diesmal 24 Werke, was ebenfalls eine Steigerung bedeutete.
Die Sammlung der prämiierten Bücher wirkte schon 1963 etwas moderner als in den Jahren zuvor, als ein stark volkstümlicher Einschlag vorherrschte. Die Modernisierung verstärkte sich 1964 – allerdings auch durch eine Rück-
besinnung! Und hier ist natürlich insbesondere die Wiener Kunstszene in der Belle Époche das Pfund, mir dem die Österreicher wuchern können. Beispielhaft dafür steht der unten vorgestellte Band “Finale und Aufbruch”, der im Wettbewerb den “3. Staatspreis” erhielt und einer der schönsten Bücher dieses Jahres auch im gesamten deutschsprachigen Raum war.
Ansonsten umgeht das lapidar kurze Vorwort weiterhin konsequent irgendwelche Erklärungen oder Begründungen.
Finale und Auftakt: Wien 1898 - 1914.
Literatur · Bildende Kunst · Musik.
Unzweifelhaft hatte die Belle Époche neben Paris und Berlin in Wien eines ihrer Zentren, vielleicht sogar das bedeutendste und typischste.
Der in der Art einer Anthologie angelegte, schön und gediegen gemachte Band bringt zeitgenössische Dokumente, viele Schwarz-Weiß-Abbildungen und einige Farbtafeln.
Besonders gelungen sind die Portraits führender Vertreter der Wiener Kunstszene jener Epoche.
...was macht die Schweiz?
Die schönsten Schweizer Bücher 1964
Von 198 eingesandten Titeln (Vorjahr 183) wurden 29 Werke (Vorjahr 32) ausgezeichnet.
Die Herren der Jury führen geradezu einen Feldzug gegen große Formate und satte Farben, dem sie sich mit großem Ernst verschreiben.
Man geht gegen die “große Flut von anspruchsvollen Kunstbüchern, die oft das zulässige (!) handliche Format vermissen lassen”, vor. Insbesondere “das allzusehr verschönte farbige Bild, das mit dem Geschmack einer breiten Käuferschicht (...) liebäugelt (sic), ist zu bekämpfen.”
In der BRD hatte man solche doktrinären, belehrenden Ansichten zum letzten Mal 1957 und 1959 gelesen und auch in der Schweiz sollte spätestens im Wettbewerb 1968 ein frischer Wind wehen. (Die Jahrgänge 1966 und 1967 liegen dem Chronisten leider nicht vor.)
Taschenbücher ließ die Jury schon 1964 erstmals zu, prämierte aber keins.
Eberhard Horst / Josef Rast: Sizilien
An diesem Führer erkennt man par excellence, wie Reisen vor dem Massentourismus war.
Ein Reiseführer, wie sie einmal waren – obwohl er für die damalige Zeit laut Jury durchaus Neuerungen brachte und für seine “frische, neue Konzeption” gelobt wurde. Damit kann kaum der Text von Eberhard Horst (1924–2012) gemeint gewesen sein, denn der richtet sich in klassischer Manier an den gebildeten, kulturell interessierten Reisenden, es sei denn, das Einbeziehen von politischen und sozialen Aspekten wäre Anfang der 60er Jahre völlig neu gewesen.
Kennzeichnend für die neue Herangehensweise waren die ausdrucksstarken Fotos von Josef Rast (1920–2015), der nicht nur Kirchen und Landschaften aufnahm, sondern Straßenszenen mit spielenden Kindern, arbeitenden Männern, flanierenden Paaren. Dabei arbeitete Josef Rast technisch perfekt mit Bildaufbau und Perspektive.
Der 1964 so neuartige Führer würde heute von den meisten Touristen als rettungslos langweilig angesehen. Viel zu viel Text und nur Schwarz-Weiß-Fotos. Dabei war das Buch viel besser als das meiste, was heute so auf dem Markt kommt. Mit so einem Führer gibt es selbst noch was zu entdecken und nicht nur die schon perfekt ins Bild gesetzten “Sehenswürdigkeiten” abzuhaken.
Als Reiseführer vielleicht ein bisschen dick und unhandlich, aber auch zur Vorbereitung auf die Reise geeignet.
Trotzdem war alles okay, außer der Kaschierung des Schutzumschlages, die irgendwann im Laufe der Jahre anfing, sich zu wellen. Es gibt auf dem antiquarischen Markt praktisch kein einziges Exemplar, bei dem dieser Effekt nicht aufgetreten ist.
Dann passierte Folgendes: Der Walter-Verlag brachte 1973 eine zweite Auflage heraus, die neue Jahreszahl geschickt in römischen Ziffern versteckt, so dass es auch dem Chronisten zunächst nicht auffiel.
Diese Neuauflage hat nur noch 419 statt 547 Seiten. Während man den Text weitgehend unverändert ließ, erreichte man die Reduktion durch das Entfernen von vielen Fotos, darunter wirklich hochwertigen, ja phantastischen Aufnahmen. Das Vorwort des Fotografen beließ man hingegen beim selben Wortlaut.
Dafür hätte man dem Walter-Verlag eigentlich nachträglich den Preis aberkennen müssen.
Hochgeladen am 30. Oktober 2015; zuletzt aktualisiert am 26. Juli 2023.
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