1975 war das erste volle Jahr der Kanzlerschaft Helmut Schmidts, des Machers. Die innenpolitische Lage wurde weiterhin von den Aktionen der Roten Armee Fraktion bestimmt. Der von einer der RAF nahestehenden Gruppe “Bewegung 2. Juni” entführte Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz wurde freigelassen, nachdem die Bundesregierung einem “Gefangenenaustausch” zugestimmt hatte – heute undenkbar. Einen der furchtbarsten Terroranschläge verübte die RAF in der deutschen Botschaft in Stockholm. Währenddessen begann in Stammheim der vielbeachtete Mammut-Prozess gegen den harten Kern der Baader-Meinhof-Gruppe.
International standen die Zeichen auf Entspannung. Am 30. April endete endlich der Vietnamkrieg. Am 1. August wurde in Helsinki die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterzeichnet. Am 20. November starb der spanische General Franco, wodurch der Weg zur Demokratie frei wurde.
Die fünfzig Bücher 1975
Stiftung Buchkunst, Frankfurt am Main
Das Heft, in einem noch weniger attraktiven Umschlag als im Vorjahr, dafür aber in Leinen, wie es sonst nur noch die DDR machte, kam diesmal als Sonderausgabe mit dem regulären Wettbewerb für 1975 und mit einer Übersicht über die fünf Wettbewerbe von 1971 bis 1975, samt ausführlichen Erläuterungen für diesen Zeitraum, auf die hier nicht eingegangen wird.
Das Vorwort für 1975 verblieb angesichts der noch folgenden Ausführungen im zweiten Teil eher kurz.
Diesmal wurden 54 Bücher als „Die fünfzig Bücher“ ausgezeichnet. Eingereicht worden waren 419 Bände – im Vergleich zum gigantischen Buchmarkt der BRD eine geringe Anzahl. Im Allgemeinen wird der Stand der Buchkunst positiv beurteilt. Sorge bereitet der Jury jedoch der von ihr so gesehene größer werdende Abstand „zwischen den bewusst und sorgfältig hergestellten Büchern und den ‚normalen‘ Büchern“.
Der Jahrgang 1975 ist ein trauriges Beispiel dafür, was damals alles falsch lief bei der Stiftung Buchkunst und dem von ihr veranstalteten Wettbewerb.
Seit Jahren bewegte sich die von der Stiftung betriebene Auswahlpolitik, die scheinbar von niemandem ernsthaft kontrolliert wurde, in bestimmte, im Folgenden geschilderte Richtungen.
Die erneut bevorzugte Stellung der Büchergilde Gutenberg mit ihrem Gestalter Juergen Seuss (diesmal Preisträger 1-3, 14, 15) kann man schon als Ärgernis empfinden. Dabei entstehen auch noch endlose Reihungen. So werden zum Beispiel immer wieder die von Seuss verantworteten, den Koryphäen der Linken gewidmeten Anthologien der Büchergilde Gutenberg ausgezeichnet. 1971: Adorno, 1972: Bloch, 1975: Mitscherlich. Die Aufmachung der Bücher ist identisch (einmal wurde ein anderes, aber ähnliches Papier verwendet) und im übrigen seriös, aber nicht weltbewegend. Drei mal eines „der” Bücher? Für den Chronisten ist das nicht nachvollziehbar.
Schon mehrmals wurde hier auch die Frage aufgeworfen, ob Buchclubausgaben überhaupt eine so große Rolle beim Wettbewerb spielen sollten. So waren die von Hoffmann und Campe veröffentlichten „Zündschnüre” von Franz Josef Degenhardt 1973 durchaus ein Ereignis. Die DDR-Lizenzausgabe erschien 1974 beim Aufbau Verlag. Als die Büchergilde das Buch 1975 herausbrachte, hatte Degenhardt schon ein Jahr vorher (1974) seine „Brandstellen” publiziert. Auch Sammler interessieren sich in erster Linie für Erstausgaben.
Auf die Problematik, einen Bildband (“Kunst der Grafik”) in einer komprimierten Taschenbuchausgabe („im Text ungekürzt“, aber eben nur im Text) als eines „der“ Bücher auszuzeichnen und an der voluminösen Erstausgabe vorbeizugehen, wurde von mir ebenfalls bereits in anderen Jahrgängen des Wettbewerbs verwiesen.
Mit 8 Preisträgern gab es sehr viele aus der Sparte der Kinderbücher, wobei moderne Autoren wie Tomi Ungerer, Ali Mitgutsch und Leo Lionni gefragt waren. Hinzu kamen noch 6 Schulbücher. Damit scheinen diese beiden Gruppen überrepräsentiert.
Hinzu kommen die ständig wiederkehrenden Prämierungen für Bücher, die für den normalen Leser nicht käuflich erwerblich waren, entweder weil sie von vorneherein gar nicht in den Handel kamen, in winzigen Auflagen erschienen oder unerschwinglich waren (und es auch antiquarisch nach wie vor sind).
So ergeben sich folgende Zahlen für 1975 (wobei die Gruppen sich überschneiden können):
8 x Kinderbücher
6 x Schulbücher
3 x „nicht im Handel“.
5 x „nur für Mitglieder“
Auflagenhöhen von 50, 60, 100, 400, 500, 750 Exemplaren.
Preise von 110 DM, 2 x 128 DM, 145 DM, 148 DM, 159 DM, 180 DM, 198 DM, 320 DM, 350 DM, 2 x 480 DM.
Das sind Exzesse, die man in den anderen Wettbewerben der deutschsprachigen Länder vergeblich suchte. Wie kann man etwas gemäß dem eigenen Anspruch als repräsentativ (für Entwicklungen), als beispielhaft oder vorbildlich (für den Gesamtmarkt) ansehen, was sich auf solch restringierten Segmenten des Buchhandels abspielt?
Die Stiftung Buchkunst, ihre Geschäftsführung und ihre Jury erscheinen so als elitärer Club, der zu Recht in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde.
Immerhin gelingt mit den „Rheinlandschaften” von August Sander ein Volltreffer. Der Schirmer/Mosel und der Taschen Verlag machen bekanntlich in der Jetzt-Zeit (2018) die schönsten Bücher. Der Schirmer/Mosel Verlag wurde 1975 beim Wettbewerb zum ersten Mal ausgezeichnet. Abhängig war die Auszeichnung offenbar davon, dass Fotografie Anfang der 70er Jahre vom Kunstbetrieb der Bundesrepublik quasi offiziell als „Kunst” anerkannt wurde. Die Wettbewerbe der anderen deutschsprachigen Länder scherten sich um solche zweifelhaften „Legitimationen” nicht und prämierten seit Anfang der 50er Jahre immer wieder herausragende Fotografen, wie es der Chronist in dieser Reihe mehrmals dokumentiert hat.
Schwierig ist es hingegen trotz allen Bemühens, an den Reproduktionen der Schreibmaschinen-Manuskripte von Arno Schmidt irgendetwas Auszeichnungs-Würdiges zu erkennen. Aber dieser war ja von der bundesdeutschen Literaturszene als „genial” eingestuft worden.
August Sander: Rheinlandschaften
Das Werk war die erste Veröffentlichung des 1974 in München gegründeten Schirmer, Mosel Verlages (wie er sich damals mit Komma noch schrieb). Man erkennt sofort, warum Schirmer, Mosel zu einem der renommiertesten Kunstverlage in Deutschland und darüber hinaus wurde.
Größte Sorgfalt und Qualität bei allen handwerklichen Prozessen, ob es Papier, Einband, Druck, Layout sind. Begleitung der Publikation durch einen anerkannten Fachmann (ob man den Text von Wolfgang Kemp nun liest oder nicht). Oft durch eine Publikation erfolgte Erschließung neuer Gebiete oder Themen.
August Sander (1876–1964) aus Herdorf im Westerwald war einer der bedeutendsten deutschen Photographen. Weltrang hat vor allem seine Portrait-Serie „Menschen des 20. Jahrhunderts”, vom Schirmer, Mosel Verlag 2002 in 7 Bänden neu veröffentlicht.
Der Landschafts-Fotografie wandte Sander sich verstärkt zu, als die Nazis 1934 seine Portraits verboten und die Druckstöcke zerstörten. Der realistische, sachliche Blick auf den Menschen ließ sich nicht mit der NS-Rasseideologie vereinbaren.
Die Rheinlandschaften fallen gegen die „Menschen des 20. Jahrhunderts” etwas ab, auch wenn Wolfgang Kemp (*1946) in seiner gelehrten Abhandlung ihren Rang noch so sehr hervorhebt („ein Mehr an Aussage abgewinnen”). Von Bedeutung ist vor allem ihr dokumentarischer Wert.
Nicht überzeugen kann das laut Kemp „nicht von ungefähr” ausgewählte Titelbild des Schutzumschlages. Ist es zu bestreiten, dass die Photographie mit der zu einem Drittel fast tiefschwarzen, unterbelichteten Fläche eine der schwächsten und zumal für Sander untypischen Aufnahmen ist? Einzig die Anordnung der Berge und der Himmel, auf den Sander belichtet hat, haben hier etwas.
Dem Kunsthistoriker Kemp unterläuft auf S. 48/49 des Kataloges der Irrtum, das Siebengebirge mit dem Mittelrheintal zu verwechseln. Der englische Rheintourismus wie auch der moderne Massentourismus bezog und bezieht sich eindeutig auf die Gegend zwischen Koblenz und Wiesbaden und nicht zwischen Bonn und Koblenz. Auch Friedrich Schlegel, den Kemp zitiert, meint in seiner Rheinfahrt das Mittelrheintal, denn er schreibt: „von da” („von Coblenz”) „bis St. Goar und Bingen”. Und die „kühnen Burgen auf wilden Felsen”, die Schlegel gesehen hat, stehen natürlich auch im Mittelrheintal. Das Siebengebirge hat an nennenswerten Burgen nur Drachenfels und Rolandseck. Sehr bedenklich, wenn ein Kunsthistoriker, der auch noch in Frankfurt am Main gebürtig ist und mehrere Jahre in Bonn lebte, das unmittelbar benachbarte Sujet seines portraitierten Künstlers nicht mal genau kennt.
Wie so oft in Fotobüchern fehlen gänzlich Angaben zur verwendeten Technik. Sander verwendete großformatige Platten, arbeitete mit langen Belichtungszeiten, wodurch oft unscharfe und düstere Szenerien entstehen.
Der Verfasser kann mehrere Ansichten des Buches mit eigenen Aufnahmen vergleichen, so der Blick vom Drachenfels auf Bad Honnef und Nonnenwerth oder der Vier-Seen-Blick bei Boppard. Dabei lassen sich die Zerstörungen der Rheinlandschaft durch immer weiter um sich greifende Siedlungen und Verkehrswege erkennen.
Auf einem Bild, dem Blick auf Braubach und die Marksburg, lässt sich die Rheinromantik vergangener Zeiten zumindest noch erahnen. Neben diesem Bild erscheint eine Jahreszeiten-Serie am gelungensten, die an der Wolkenburg bei Bad Honnef entstand.
Franz Josef Degenhardt: Zündschnüre
Sehr farbig, sehr lebendig und in der Art eines Schelmenromans schildert der Liedermacher
Franz Josef Degenhardt (1931–2011) das letzte Kriegsjahr aus der Sicht einer Gruppe von Jugendlichen in einem kommunistischen Arbeiterwohnviertel seiner westfälischen Heimatstadt Schwelm.
Die Stärken des Romans liegen in einem großen Detailreichtum, viel authentisch wirkendem Lokalkolorit und auch in seinem Unterhaltungswert. Der lustige, aber auch grobe Stil wird stringent durchgehalten.
Schwer zu sagen ist allerdings, ob tatsächlich so derb bis teilweise abstoßend ordinär gesprochen (und gedacht) wurde. Und es ist nicht nur die Sprache. Die Kommunisten wirken hier so vulgär, dass man nur froh sein konnte, dass sie im Westen nicht an die Macht kamen.
In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer die Zielgruppe des Romans sein sollte. Eigentlich handelt es sich um einen Jugendroman. Aber die Sprache und einige Grausamkeiten der Darstellung sind für diese Altersgruppe kaum geeignet.
Dass Degenhardt in der DKP war, bekommt der Leser auch gleich mit: denn schon auf der fünften Seite geht es schon um die Verbrüderung mit der Sowjetunion. Auf der nächsten Seite wird ein Portrait von Stalin bewundert. Dann werden Thälmann und Lenin eingeführt. Auch im Folgenden wird immer wieder teils offen im Stil einer KPD-Folklore, teils sehr sublim das stalinistische Weltbild vermittelt, etwa dass die Attentäter des 20. Juni „Militaristen“ seien.
Problematisch für die Konstruktion der Handlung ist die große Vielzahl von handelnden Personen mit ihren eigenartigen Spitznamen. Dadurch wird das Geschehen leider etwas unübersichtlich.
Außer dem chronologischen Ablauf, der – wie dem Leser ja bekannt ist – unweigerlich auf das Kriegsende hinführt, besitzt der Roman keinen Spannungsbogen, keine Entwicklung, sondern besteht aus mehr oder weniger zusammenhanglos aneinander gereihten Kapitel, ähnlich wie die Lieder einer Langspielplatte.
Trotz allem macht es Spaß, das Werk bis zum Ende zu lesen.
Zum Buch als handwerkliches Produkt:
Der Fotosatz verführte dazu, mit dem Layout herumzuspielen. Das sieht man zum Beispiel an der Paginierung. Die Seitenzahlen zwischen dem fortlaufenden, unterstrichenen Seitentitel und der Kolumne unterzubringen und auch noch fett hervorzuheben, ist zumindest ungewöhnlich. Es entsteht auch die Gefahr der Verwechslung mit einer Kapitelnumerierung. Ganz abenteuerlich wird es, wenn das Inhaltsverzeichnis im Fließtext gesetzt wird (wahrscheinlich der besseren Übersichtlichkeit halber).
Leider passieren auch immer wieder, wie bei einigen von Seuss verantworteten Büchern, Fehler im Satz, wie schon im ersten Absatz, den wohl keiner der Juroren gelesen hat, mehrfach unterschiedliche Abstände zwischen den Wörtern (krass etwa auch auf S. 149, 2. Absatz, 1. Zeile).
Schließlich scheint die feine Schrift Borgis Excelsior nicht recht zum Inhalt zu passen.
Die Umschlagillustrationen sind gelungen. Die Wahl von grobem, holzhaltigem Papier war wohl Absicht. Jahre später zeigt sich aber zum Verdruss des Sammlers heftige Lichteinwirkung.
Alexander Mitscherlich: Freiheit – eine Utopie?
Alexander Mitscherlich (1908–1982) war neben Horst Eberhard Richter der bekannteste deutsche Psychoanalytiker und wie dieser beschränkte er sich nicht auf die Tätigkeit für seine Patienten, sondern mischte sich aktiv in gesellschaftliche Diskussionen ein.
Der Band (siehe auch in der Einleitung oben) vereint in sich völlig unterschiedliche Schriften aus dem Zeitraum 1946 bis 1974. Am bedeutendsten davon sind die sehr stark sozialistisch geprägten Frühschriften sowie das bekannte Werk “Die Unwirtlichkeit unserer Städte” (Erstauflage edition suhrkamp 123), in dem Mitscherlich wortgewaltig die Sünden des bundesdeutschen Städtebaus anprangert. Vieles davon ist heute noch aktuell bzw. findet durch die “Gentrifizierung” eine Neuauflage.
Die bedeutenden Schriften “Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft”, “Krankheit als Konflikt” sowie “Die Unfähigkeit zu trauern” (zusammen mit seiner Frau Margarete Mitscherlich) wurden leider nicht aufgenommen, auch nicht auszugsweise. Eine Einleitung fehlt völlig. Soviel zu Mängeln der Editionspolitik.
Man fragt sich also, was die Auszeichnung dieses Buches gerechtfertigt hat, zumal es Teil einer Reihe der Büchergilde war, die 1971 (Adorno) und 1972 (Bloch) mit identischer Ausstattung schon zwei Mal bei der Preisverleihung berücksichtigt wurde. Beim vorliegenden Band finden sich in bestimmten Abschnitten fast auf jeder Seite Fehler im Satz, sogar im Klappentext. Das wird man bei der edition suhrkamp vergeblich suchen.
Und ein Portraitfoto gehört bei einem solchen Buch einfach dazu.
Das sehr nützliche Merk-Buch für Geburtstage
Eine wunderhübsche Sammlung von kleinen Texten und hübschen Bildchen, welche ein immerwährendes Kalendarium ausschmücken, hat Elisabeth Borchers zusammengestellt und der Insel Verlag veröffentlicht.
Das Taschenbuch wurde ungemein populär, hatte schon in der Erstauflage eine Verbreitung von unglaublichen 80.000 Exemplaren und erfuhr viele Neuauflagen.
Die graphische Konzeption der Gesamtreihe wurden vom genialen Designer Willy Fleckhaus vorgenommen, der auch hier schon 1969 und 1972 erwähnt wurde
Auch vom Material her (wertiger Umschlag, gutes Papier und haltbare Bindung) waren die Insel Taschenbücher mit das Beste, was es auf dem Markt gab. Dieses hier wurde mit durchgehend farbigen Illustrationen und 120 g schwerem, gestrichenem Papier besonders gut ausgestattet. Ein Volltreffer.
Dass die Illustratorin des Titelbildes nicht angegeben wird, geht aber gar nicht. Es handelt sich um Erna de Vries. Es gibt drei bekannte Frauen mit diesem Namen. Eine KZ-Überlebende, eine in Kanada lebende Künstlerin und eine Illustratorin von Kinderbüchern, die die Werkkunstschule in Münster und die Hochschule für Bildende Künste in Kassel besuchte, aber im Internet fast keine Spuren hinterlassen hat.
Ein Buch, dass der Chronist schon 1975 sein eigen nannte.
Der Wettbewerb in der DDR
Die schönsten Bücher der DDR 1975
Unvermeidlich muss dem sozialistischen System der DDR im Vorwort Tribut gezollt werden. Jedoch fällt dieser sehr viel milder aus als in den 50er Jahren. Die Formalismus-Debatte liegt lange zurück. Jetzt werden zum Beispiel bei Kinderbüchern ausdrücklich „Phantasie, Einfallsreichtum und eine breite Palette von Ausdrucksmitteln” gelobt (S. 14-15). Auch bei den anderen Sparten fällt auf, wie schnell das Graphik Design sich auf einmal von den politischen Fesseln löst und kreative, moderne Formen annimmt (Beispiele etwa S. 88, 90).
Allerdings gilt immer noch der Grundsatz, dass „gesellschaftlich wichtige Publikationen“ in „ästhetisch schöne Form” gebracht werden müssten. Und die Buchkunst müsse auf „bedeutende gesellschaftliche Ereignisse” reagieren.
Solche Ereignisse werden gleich drei angeführt: Der 450. Jahrestag des Bauernkrieges, der 30. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus und – in gewisser Weise verblüffend, wie die DDR sich dieses Thema offiziell aneignet – „der 100. Geburtstag des großen Romanciers und Humanisten Thomas Mann”.
Ein weiteres großes Ereignis, das gebührend gefeiert wird, ist das Erscheinen der ersten Bände der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Außer bei Forschern konnte sich die MEGA gegenüber den Marx-Engels-Werken (MEW) aber nie durchsetzen.
Außerdem warf die 1977 in Leipzig geplante Internationale Buchkunst-Ausstellung schon ihre Schatten voraus, denn aus diesem Anlass habe man beim (nach wie vor fachöffentlich stattfindenden) Auswahlverfahren besonders strenge Kriterien angelegt, würden doch die Preisträger von 1975 auch bei der IBA ausgestellt. Allerdings wurden nur zwei Titel weniger als im Vorjahr prämiert, nämlich 49 von 239 vorgelegten Büchern (1974: 51 von 246).
Unterschiede zwischen BRD, DDR, Österreich und Schweiz
Ein starker Kontrast zur elitär erscheinenden Auswahlpolitik der BRD (s.o.) besteht bei der Auflagenhöhe der ausgewählten Bücher und bei der Preisgestaltung. 34 von 49 Titel wurden in über 5000 Exemplaren gedruckt, 17 Titel kosteten unter 10 Mark. Ein direkter Vergleich mit den Zahlen der BRD ist allerdings wegen der unterschiedlichen Einwohnerzahl und des anders entwickelten Buchmarktes nicht möglich. So druckten westdeutsche Verlage oftmals für den gesamten deutschsprachigen Raum, also auch für Österreich und die Schweiz.
Interessant ist nebenbei, dass in der DDR seit den 50er Jahren der fachlich richtige und gängige Terminus „Belletristik” verwendet wird, während man beim BRD-Wettbewerb immer noch den unüblichen und eigenartigen Begriff „Allgemeine Literatur” benutzt.
In der DDR wurde auch regelmäßig mehr Belletristik ausgezeichnet (1973 bis 1975 jeweils 13 Bände) als in der BRD (1973: 9, 1974: 10, 1975: 6 Bände).
In Österreich und der Schweiz wird gar keine Unterscheidung nach Fachgruppen getroffen, in beiden Staaten auch nur wenig Belletristik ausgezeichnet, da Illustration und Grafik absolut im Vordergrund stehen. In der Schweiz wird jeweils nur die Anzahl der ausgezeichneten Bände in den verschiedenen Sprachen genannt. In Österreich gibt es nur die Unterscheidung nach den Preisen: „I., II., III. Staatspreis”, „Diplom” und sonstige.
Nach wie vor sind die Texte des DDR-Auswahlkataloges am ausführlichsten. Es geht bis hinein in die Details der Produktionsverfahren wie etwa die Verwendung verschiedener Bindungs-Techniken.
Begründungen zu den prämierten Büchern gibt es in der DDR insgesamt am ausführlichsten, allerdings nur noch zusammenfassend im Vorwort unter konkreter Nennung der meisten Preisträger. Der Schweizer Wettbewerb nennt bei jedem Buch eine kurze Begründung. Die BRD und Österreich verzichten ganz darauf.
Wenn man will, kann man in diesen Unterschieden zwischen den Staaten schon sehr viel an kulturellen Differenzen erkennen.
Atlas zur Geschichte. 2 Bände.
Das zweibändige Werk wurde im Verlag VEB Hermann Haack, Geographisch-Kartographische Anstalt Gotha/Leipzig herausgebracht, welcher übrigens eine sehr interessante und wechselvolle Geschichte hat.
Natürlich steckt in diesen beiden Bänden eine ungeheure Arbeit, auf die die Jury zu recht hinweist. Denn es gilt nicht nur die Karten zu zeichnen und zu reproduzieren. Sondern jede einzelne der 450 Karten erzählt eine umfangreiche Geschichte eines bestimmten historischen Vorgangs. Diese Geschichte muss erschlossen und auf die wichtigsten Fakten konzentriert werden. Dann fängt erst die Erstellung der Illustration an, für die ebenfalls sehr viel Vergleichsmaterial erforderlich ist.
So ist es kein Wunder, dass „über 200 Gesellschaftswissenschaftler verschiedener Disziplinen und ungefähr 80 Kartenredakteure, Kartographen und Zeichner” beteiligt waren. Und dann fängt erst die Herstellung des Buches an! (Historiker werden hier richtig als Gesellschaftswissenschaftler bezeichnet, so wie es sich in der BRD auch ab den 70ern durchsetzte.)
Vergleich mit dem Putzger
Das westdeutsche Pendant zum Haack, der einbändige „Putzger Historische Weltatlas”, nennt in seiner Ausgabe von 1969 immerhin auch 104 wissenschaftliche Mitarbeiter.
Nimmt man den Putzger als Vergleichsmaßstab, wirkt dieser übersichtlicher, weil die Farben und Beschriftungen regelmäßig kräftiger und lesbarer sind, manchmal bestimmten Themen auch eine Doppelseite gewidmet wurde, die sich beim DDR-Werk mit weniger Platz begnügen mussten. Dafür greift der Haack Verlag aufgrund seiner sozialistischen Ausrichtung Themen in großer Breite und Detailfülle heraus, die im Putzger gar nicht vorkommen. Als Beispiel seien hier die Gegenreformation (S. 58) oder die Mainzer Republik vom März 1793 genannt (S. 79).
Störend, aber hinnehmbar wirkt bei dem vorliegenden, ungemein nützlichen Werk die straffe Ausrichtung am dogmatischen marxistisch-leninistischen Geschichtsbild, wie es vor allem an den verwendeten Begriffen und Einteilungen, überhaupt an der ganzen Strukturierung erkennbar ist. Überraschend ist dabei, dass selbst feststehende Begriffe durch eine andere Terminologie ersetzt werden, wie z. B. die „Französische Revolution” (wie sie eigentlich auch bei marxistischen Historikern heißt) durch „Die bürgerlich-demokratische Revolution in Frankreich” (S. 78).
Damit soll den Schülern verdeutlicht werden, dass diese nur Teil der im Lauf der Geschichte sich wie in einem Naturgesetz zwangsläufig sich ereignenden bürgerlichen Revolutionen war. Die auf der entsprechenden Karte in Turin, London und Koblenz eingesetzten drei schwarzen Dreiecke sind laut Legende „Zentrum emigrierter Konterrevolutionäre”.
Ganz arg manipulativ wird es beim 2. Band, der erst 1917 einsetzt, nämlich bei der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution”, als habe die eigentliche Menschheitsgeschichte erst dort begonnen, wie es nach marxistischer Dogmatik ja auch der Fall ist.
Gleich der Umschlag deklamiert auf seinen vier kleinen Karten unter anderem:
„Die Große Sozialistische Oktoberrevolution. Der Triumphzug der Sowjetmacht von Oktober 1917 bis März 1918” und
„Der Kampf um die Vereinigung von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 1945/46".
Die Manipulation der Schüler im Geschichteunterricht der DDR muss beträchtlich gewesen sein. Ob die Schüler im historischen Unterricht der BRD tatsächlich zu freien und kritischen Subjekten erzogen werden, ist eine andere Frage.
Die unterschiedliche Anlage der beiden Werke macht sich auch beim Register bemerkbar. Beim Haack machen die Register rund die Hälfte (!) der Bücher aus (Band 1: S. 129 - 251, Band 2: S. 113 - 231). Der Putzger 1969 bringt sein Register auf den Seiten 146-193 unter, darunter leidet allerdings auch die Übersichtlichkeit. Umschlag und Papier sind beim Putzger wiederum für die Anforderungen der Schule besser geeignet.
Früher hatte auch bei uns im Westen jeder Schüler einen historischen Weltatlas der Art Putzger, manchmal noch ergänzt durch den zweibändigen dtv-Atlas zur Weltgeschichte. Bei dem komplexen und den Schülern sehr fremden historischen Geschehen, scheint eine bildhafte Vergewisserung und Lokalisierung der Ereignisse unabdingbar. Beim heutigen Geschichteunterricht ist oftmals an die Stelle einer mit Unterstützung von Kartenwerken fundierten und abgesicherten historischen Bildung eine reine Textexegese schriftlicher Quellen getreten, die die Schüler ohne wirkliches Wissen aus der Schule entlässt.
Verband Bildender Künstler
der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.):
Gebrauchsgrafik in der DDR
Das eigentlich interessante Vorwort des DDR-Historikers Hellmut Rademacher liegt und leidet im Prokrustes-Bett der marxistisch-leninistischen Ideologie. Darüber kann der Verfasser sich auch nie erheben, da er ausschließlich im Ostblock publizierte Literatur verwendet.
Es geht aber nicht nur um eine selbst auferlegte Einschränkung der Erkenntnis, sondern um eine Aufgabenbestimmung, die angeblich so anders ist als die im Westen den Künstlern auferlegten „ökonomischen Pressionen”, aber tatsächlich als Staatsideologie die kreative Freiheit von vorneherein in bestimmte Bahnen lenken will.
Strikt wird den Künstlern eine politische Funktionszuweisung vorgegeben, nämlich die Prinzipien der sozialistischen Gesellschaft, insbesondere „die Arbeiterklasse als führende Kraft” (47) anzuerkennen – und damit natürlich unausgesprochen die „Partei der Arbeiterklasse”, die SED. Stets sei im Sinne des „sozialistischen Realismus” darauf zu achten, dass „der Arbeiter überhaupt als führende Kraft in unserem Staat” beachtet und dies künstlerisch umgesetzt werde (48).
Dabei wird in fast schon überwunden geglaubter, dogmatisch marxistisch-leninistischer Manier der 50er Jahre eine Abgrenzung vorgenommen zwischen „realistischen Werken” (47) und angeblich „modernen”, in Wirklichkeit „reaktionärsten Ideen” (45). Man fühlt sich an den Formalismus-Streit der 50er Jahre erinnert.
Zitiert wird dabei ein Werk des sowjetischen Kulturtheoretikers Michail Lifschitz, das auf Deutsch 1971 mit dem Titel „Krise des Häßlichen. Vom Kubismus zur Pop Art” veröffentlicht wurde, ausgerechnet im „Verlag der Kunst”, Dresden.
Die Ideologie des „sozialistischen Realismus” wird von Rademacher auch ausdrücklich zur Grundlage der Selektion von Mitgliedern im Verband der Gebrauchsgrafiker gemacht. Es sei bei Neuanmeldungen darauf zu achten, dass die beschriebenen „Leistungskriterien” erfüllt werden.
Die 1400 sehr gut reproduzierten und inhaltlich gut erschlossenen Arbeiten reichen von 1946 bis 1973. Die Grafiken sind zunächst immer bieder, oft nett, manchmal lustig, aber häufig langweilig und beim Stil auf dem Stand der 20er und 30er Jahre (wenn nicht der Jahrhundertwende) stehen geblieben.
Ab 1967/68 folgt beim Grafikdesign zunächst eine Lockerung und ab Anfang der 70er Jahre zeigen sich die von Hellmut Rademacher gegeißelten „modernistischen” Tendenzen sehr deutlich. Viele Arbeiten, etwa Theaterplakate, sind nicht mehr von moderne, hochklassigen Arbeiten im Westen zu unterscheiden.
Beispiele aus dem besprochenen Band sind hier abgebildet: ein Veranstaltungsplakat von Irmgard Horlbeck-Kappler aus dem Jahre 1971 und ein Theaterplakat von Helmut Brade aus dem Jahre 1972.
“Hässlicher Kubismus”
“Dekadenter Modernismus”
Deutlich zu sehen sind die selbstbewussten, international beeinflussten Tendenzen auch bei Umschlägen von Druckerzeugnissen. Legendär, aber in diesem Band nicht aufgenommen, war die Crème der DDR-Modefotografie, wie sie in der Zeitschrift „Sibylle” publizierte: modern, sexy, raffiniert.
Die DDR war kein hermetisch abgeschlossener Staat. Kulturelle Strömungen aus dem Westen wurden durchaus aufgenommen und verarbeitet, wenn auch teilweise kontrolliert, teilweise sehr sublim, und auf jeden Fall mit Verspätung. Zudem muss man sehen, dass „hüben wie drüben” ein gemischtes internationales Repertoire entstand. Gute DDR-Künstler wurden auch in der BRD aufgelegt; Grafiker wie Klaus Ensikat hatten ohnehin einen internationalen Horizont. Und auch in der DDR wurden aktuelle Arbeiten von „progressiven Künstlern” der BRD aufgeführt oder vertrieben.
Dass die „führende Rolle der Arbeiterklasse” in irgendeiner Weise in die DDR-Grafik der späten 60er und frühen 70er Jahre beeinflusste, ist konkret nicht mehr nachzuweisen (und vorher auch nur bedingt). Es muss also eine zunehmende Kluft zwischen den ideologischen Ansprüchen der Partei und der gesellschaftlichen und künstlerischen Wirklichkeit konstatiert werden. Wie würde sich dieser Widerspruch weiterentwickeln? Eine hochspannende Frage, auf die die Geschichte 1989 eine Antwort geben sollte.
Ein eigenes Buch hätten die Propaganda-Plakate verdient, an denen man die Geschichte der DDR sehr anschaulich nachvollziehen kann. Erschreckend der Stil der politischen Plakate, die bis weit in die 50er Jahre deutlich an den Faschismus erinnern. Ab den 60ern werden auch in diesem Bereich Form und Inhalt moderner, etwa durch gekonnte Fotomontagen, und ähneln zum Beispiel in der Agitation gegen die USA sehr stark der Tätigkeit der „Neuen Linken” in der BRD.
Hohe Aussagekraft über die Wirklichkeit der DDR haben auch die im Bereich der „Gesellschaftlichen Agitation” abgedruckten Arbeiten. Da heißt es etwa in einer 1966 vom FDGB herausgegebenen Broschüre, die Gewerkschaften sollten den „sozialistischen Wettbewerb” und die „sozialistische Rationalisierung organisieren”. Eine Funktionsbestimmung, die der ursprünglichen Idee von Gewerkschaften diametral entgegengesetzt ist.
Rainer Kirsch / Ruth Knorr:
Die Perlen der grünen Nixe.
Ein mathematisches Märchen.
Diese schöne und wertig hergestellte Buch lebt von den phantasievollen Illustrationen der bedeutenden Künstlerin Ruth Knorr (1927–1978).
Der Text von Rainer Kirsch (1934–2015) erzählt ein Märchen um eine Seejungfrau, in das eine Reihe von mathematischen Rätseln eingebaut ist.
Für 8jährige Kinder („Lesealter: von 8 Jahren an”) erscheint der Text etwas lang und kompliziert. Die Aufgaben (Rechnen u. a. mit der Unendlichen n) sind viel zu schwer, auch wenn zur Übung noch ein Faltblatt mit einem hübschen Rechenspiel beiliegt.
Wie sehr Verlag und Autor sich auf fachlich anspruchsvollem Gebiet absichern wollten, zeigt auch folgende drollige Angabe: „Der Verlag dankt Herrn Oberstudienrat Dr. Butzke für seine Hilfe bei der Auswahl der mathematischen Probleme und die fachliche Beratung.”
Die Schrift passt sehr gut zu den Illustrationen. Seitenlanger Text ohne Absätze ist allerdings mühsam zu lesen.
Ein Blick nach Österreich
Die schönsten Bücher Österreichs 1975
Dem österreichischen Wettbewerb gelang mit der Gestaltung des Heftes von 1975 ein großer Wurf. Schon der vordere Umschlag mit einem Bild des der Wiener Secession angehörenden Künstlers Wilhelm List (entnommen dem Buch "Ver Sacrum") gibt einen Hinweis, auf das, was folgt.
Die Schönheit des Gesamtheftes mit erstmals durchgehend farbigen Reproduktionen war den anderen deutschsprachigen Wettbewerben um Jahre, ja Jahrzehnte voraus. Im Grunde wurde sie nie mehr erreicht.
Österreich tat gut daran, dieses Konzept in unveränderter Form so lange beizubehalten, wie der Katalog in gedruckter Form erschien, also meines Wissens bis 1992.
Eingereicht wurden diesmal 76 Titel, was einen deutlichen Rückgang gegenüber dem Vorjahr (88) bedeutet. 14 Preisträger wurden ausgewählt, vor allem Kunst-, Foto- und Kinderbücher, durchweg in hochqualitativem Bereich, wie es scheint.
Erstaunlich nur, dass das hochwertigste, aufwendigste und ästhetisch ansprechendste Buch, Ver sacrum, nur den 4. Platz erreichte. Den „I. Staatspreis” erhielt wieder eine Publikation des Molden Verlages aus seiner „Österreich”-Reihe. „Oberösterreich” ist eine exakte Kopie der Aufmachung von dem im Vorjahr mit dem „I. Staatspreis” ausgezeichneten „Waldviertel”, mit denselben Defiziten, nur mit besseren Fotografien, die aber sämtlich konventionell bleiben.
Es fragt sich, was bei dieser Auswahlpolitik im Vordergrund stand: Tourismus-Werbung oder ästhetische und handwerkliche Kriterien.
Christian M. Nebehay: Ver Sacrum 1898–1903
Das schwergewichtige Buch ist nicht einfach ein Reprint der unter dem Namen
“Ver Sacrum” (Heiliger Frühling) erschienen Zeitschrift der Wiener Secession, sondern ein Portrait der wichtigsten in dieser Publikation vertretenen Künstler mit einer kurzen Biographie und einer Auswahl ihrer in Ver Sacrum dort erschienen Arbeiten.
Die Druckqualität auf 160 g schwerem Papier ist umwerfend. Auch für die Aufmachung wurde so einiges getan. Farbige Trennblätter, mit Illustrationen bedrucktes halbtransparente Trennblätter. Und viel, viel Gold.
Illustration von Koloman Moser zu einem Gedicht von Arno Holz.
Überragend ist natürlich auch die editorische Leistung. Der Autor bzw. Herausgeber Christian M. Nebehay (1909–2003) war ein profunder Kenner der Wiener Secession und machte sich vor alle durch Arbeiten über Gustav Klimt und Egon Schiele einen großen Namen. Für diesen Band stellte er der Edition Tusch seine eigene höchst wertvolle Originalausgabe der Zeitschrift zur Verfügung.
Ich konnte mit riesigem Glück ein ausgezeichnetes Exemplar der in einer Auflage von 2000 gedruckten, auf dem antiquarischen Markt äußerst seltenen Originalausgabe von einer freundlichen Dame aus Fürth erwerben.
Wer alles online sehen will: die Österreichische Galerie Belvedere bietet die kompletten, hochwertig digitalisierten Ausgaben von Ver Sacrum mit allen Seiten als PDF-Files an.
...was macht die Schweiz?
Die schönsten Schweizer Bücher 1975
Der Schweizer Wettbewerb entwickelte sich peu á peu zu dem mit der qualitativ hochwertigsten Auswahl.
Mit 253 eingesandten Büchern, von denen 29 ausgewählt wurden, blieben die Zahlen relativ stabil. Der Löwenanteil der vorgestellten Werke ist wieder deutschsprachig (21 dt., 6 frz., 2 it.), insgesamt ist das Verhältnis aber etwas ausgewogener als im Vorjahr, als 30 von 33 Büchern deutschsprachig waren.
Die Jury war nach vier Jahren vom Innenministerium „neu gewählt“ und die Mitgliederzahl um 2 erhöht worden. Das blieb eine Besonderheit der Schweiz, dass die Jury nicht von den Branchenverbänden, sondern vom Staat bestimmt wurde (wenn natürlich in der DDR ebenfalls von einem gewissen staatlichen Einfluss auszugehen war). Allerdings spricht das Ergebnis in positiver Weise für sich, worauf an dieser Stelle schon mehrfach hingewiesen wurde.
Die Ergebnisse des Jahres 1975 seien insgesamt „sehr gut“ gewesen, heißt es im kurzen Vorwort, aber „kühne Neugestaltungen fehlten.“ Als möglicher Grund wird die „wirtschaftliche Situation“ angeführt. (In diesem Jahr litt man noch unter den Nachwirkungen der Ölkrise 1973.)
Ein weiterer Hinweis gilt der von der Jury verfolgten Auswahlpolitik und legt fest, dass bewährte Lösungen nicht immer wieder neu ausgezeichnet werden könnten. (Der Chronist fragt: Warum eigentlich nicht? Die Varianten, ein Buch sinnvoll zu gestalten, sind ja doch begrenzt.)
Die Jury führt an, es habe bei Behörden und Massenmedien eine große Resonanz auf den Wettbewerb gegeben. Auch da hat die Schweiz ein Alleinstellungs-Merkmal.
Unterschiede zwischen BRD, DDR, Österreich und der Schweiz
Präsident der Jury und Verfasser des Vorwortes war in diesen Jahren der Zürcher Professor Dietrich Schwarz (1913–2000) als Vertreter der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft. Dietrich Schwarz, von Haus aus Historiker und Numismatiker, ein Gelehrter von altem Schlag, war eine interessante und auch völlig andere Persönlichkeit als der intellektuell wirkende Hochschullehrer und Designer Hans Peter Willberg in der BRD, der marxistische Widerstandskämpfer und Bibliothekar Bruno Kaiser in der DDR oder der Wiener Buchhändler Gerhard Prosser, der 1975 den Vorsitz der österreichischen Jury innehatte.
Auch die Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft war anders strukturiert als etwa ihr Pendant in der Bundesrepublik, der „Freundeskreis der Stiftung Buchkunst”. Während die Bibliophilen-Gesellschaft völlig unabhängig war und ist und ihr neben Verlegern, Buchhändlern und Druckern auch Sammler, Leser und Bibliothekare angehören, ist in der BRD der Freundeskreis einer Organisation angegliedert, die von den großen Branchenverbänden der Verleger und Buchhändler getragen wird. Die Schweizerische Bibliophilen-Gesellschaft hat aktuell (2018) rund 450 Mitglieder, die Mitgliederzahl des Freundeskreises der Stiftung Buchkunst dürfte tief im unteren zweistelligen Bereich liegen. Die Schweizer Organisation hat im Unterschied zur deutschen auch eine vielfältige Veranstaltungs- und Publikationstätigkeit.
Interessant ist auch nochmals der Vergleich zwischen der Schweiz und Österreich am Beispiel der ausgezeichneten Bücher. Wirkte in der Alpenrepublik die mehrfach mit dem „I. Staatspreis” ausgezeichnete Reihe des Molden Verlages über die österreichischen Regionen merkwürdig bieder, langweilig und auf eine antiquierte Art „volksnah”, war das eidgenössische Gegenstück, die „Begegnungen mit der Schweiz”, modern, flott und unterhaltsam. Inhalt, Gestaltung, Papier – selbst bei den kleinsten Details sind diese Unterschiede noch aufzuspüren.
Koordinationskommission für die Präsenz der Schweiz im Ausland:
Begegnung mit der Schweiz
Bei diesem Führer handelt es sich um eine umfassende, in 4 Bänden im Schuber vorgelegte Landeskunde der Schweiz mit den Bereichen: Die Landschaft, Geschichte und Staat, Kultur und Kunst, Die Wirtschaft.
Besser kann man das nicht gestalten. Die Autoren entfächern ein buntes Kaleidoskop mit fachkundigen (teils aber auch etwas gelehrsamen) Texten und vorzüglichen Illustrationen auf zusammen immerhin 592 nie langweilig werdenden Seiten sowie einer beiliegenden “Strassenkarte” (Schweizer Rechtschreibung). Dem auswärtigen Leser erschließt sich ein Land, dessen Vielfalt und Komplexität immer wieder überraschend ist.
Kleinere handwerkliche Mängel des Werkes bestehen darin, dass leider die Beschriftung relativ vieler Illustrationen vergessen wurde. Auch fehlen einige Absatzschaltungen.
Die Gesamtauflage in fünf Sprachen betrug satte 50.000 Exemplare, von denen nur noch wenige antiquarisch verfügbar sind.
Die Jury urteilte: “Reiche Dokumentation, welche die verschiedenen Bildelemente zu einer überzeugenden Einheit gestaltet.”
Wehmütig liest man die Beschreibung der Landschaft in ihrer Bedeutung für den Menschen und auch die Ausführungen über den Naturschutz in der Schweiz, in einer Zeit, wo die Landschaft in Deutschland in unfassbarem Tempo und Ausmaß durch die Windindustrie zerstört wird.
Rodolfo Mosca / Mario Agliati:
Ottobre 1925. L’Europa a Locarno.
Zum 50. Jahrestag der Konferenz von Locarno brachte der in demselben Ort ansässige Verlag Armando Dadò diesen hochwertigen Band heraus, der gleichermaßen wissenschaftliches Interesse wie auch die Nostalgie bedient.
Von besonderem Interesse ist die umfangreiche Fotodokumentation, die nach zwei Aufsätzen von italienischen Historikern den zweiten Teil des Buches ausmacht. Hier sieht man die verschiedenen Delegationen nicht nur bei ihrer staatsmännischen Tätigkeit, sondern in den Cafés von Locarno, bei einem Bootsausflug oder im Park spazieren gehen. “Man kann sich so alles viel besser vorstellen”, würden die jungen Leute in der Schule sagen.
Ergänzt werden die Fotos durch zeitgenössische Karikaturen und Zeitungsausschnitte.
Ein Andenken auch an den großen, viel zu früh verstorbenen Politiker Gustav Stresemann. Die Friedensverträge von Locarno waren schon sein drittes Meisterstück, heftig bekämpft von reaktionären und ultrarechten Kräften in Deutschland.
Allerdings hätte der Band unbedingt mehrsprachig aufgelegt werden müssen. Sein Wert wäre noch erheblich gesteigert worden. Von den 1500 gedruckten Exemplaren konnte ich eines von einer Buchhandlung in Reggio Emilia erwerben, fast wie neu und zu einem fairen Preis.
Mitglieder der deutschen Delegation vor der Confiserie Scheurer.
Die Confiserie Scheurer, Locarno auf einer alten Ansichtskarte.
Max Bolliger / Monika Laimgruber: Das Riesenfest
Der Schweizer Autor Max Bolliger (1929–2013) wurde schon für die Jahre 1968 und 1972 hier vorgestellt. Diesmal hatte er sich eine wunderbare und sehr kindgerechte Geschichte ausgedacht, wie man es als “Kleiner” anstellen kann, doch “ganz groß” und anerkannt zu werden.
Monika Laimgruber. (c) privat.
Bolliger arbeitete stets mit den besten Illustratoren. Für das “Riesenfest” hatte er sich mit der Österreicherin Monika Laimgruber (*1946) zusammengetan, die bis heute (2018) über 100 Kinderbücher illustrierte. Tatsächlich lebt das Buch vor allem von den Bildern, die zu den besten Arbeiten der Künstlerin Monika Laimgruber gehören. Sie entwickelt in diesem Werk einen ungemein farbigen, dynamischen und plastischen Stil, der auch durch viele durchkomponierte Details besticht. Konturen werden oft durch gepunktete Linien angedeutet, wodurch die Bilder weich und räumlich werden.
Dem feinsinnigen und humorvollen Stil des Textautors wird in genialer Weise entsprochen. Eines der schönsten Kinderbücher, das der Verfasser in Händen hatte.
Max Bolliger / Helga Aichinger: Die Puppe auf dem Pferd
Bei diesem weiteren, im selben Jahr ausgezeichneten Titel von Max Bolliger machte derselbe Artemis Verlag, Zürich, es anders: die Illustratorin wurde zuerst genannt. (Oder weil A vor B? Oder die Dame vor dem Herrn?)
In dieser hübschen Geschichte gibt es gleich mehreres zu lernen: dass man auf seine Sachen aufpassen soll und dass die Angst vor der Nacht verfliegt, wenn man an etwas Schönes denkt und jemanden hat, der sich um einen sorgt.
Der Stil von Helga Aichinger, die hier 1972 schon vorgestellt wurde, ebenfalls mit einer Koproduktion mit Max Bolliger, ist immer etwas traurig. Das liegt nicht nur an der Mimik der Figuren und den stets gedämpften Pastellfarben, sondern auch daran, dass sie viel freien Raum um die Menschen, Tiere und Puppen herum lässt.
Die Schrift scheint nicht ganz zu den Illustrationen zu passen, obwohl die Jury gerade das als positiv herausstellte.
Hochgeladen am 19. August 2018; zuletzt aktualisiert am 28. Juli 2023.
Die auf dieser Seite vorgestellten Bücher wurden geliefert von: Buch-Galerie Silvia Umla (Auswahlhefte BRD und DDR), Antiquariat Willi Braunert, München (August Sander), besuchow versandantiquariat (Zündschnüre), Buch-Fundus (Auswahlheft Österreich), Buli-Antiquariat, Gumtow (Begegnung Schweiz), Libreria Bordini, Reggio Emilia (Locarno).