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Camel: The Snow Goose
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Mit „The Snow Goose” veröffentlichte Camel 1975 ein Konzeptalbum, mit dem die gleichnamige Novelle von Paul Gallico vertont wurde.

Man sollte die kurze Erzählung von Gallico lesen, um die Musik komplett und richtig zu verstehen. Es handelt sich dabei um die Darstellung des ungewöhnlichen Lebens eines Künstlers, der einsam an der englischen Ostküste in einem Leuchtturm wohnte, nur schon einmal Besuch von seiner jungen Freundin Fritha bekam und in dessen Leben eine Schneegans eine besondere Rolle spielen sollte. Einbezogen in die Geschichte sind die Geschehnisse im Jahr 1940 um die englische Armee bei Dünkirchen.

„The Snow Goose” ist fast ausschließlich instrumental und besteht aus 16 ineinander übergehenden Tracks. Die Grundstimmung ist entsprechend der literarischen Vorlage leicht melancholisch. Dennoch ist "The Snow Goose" ungemein abwechslungsreich und gehört zu den wenigen Alben, die ich komplett am Stück hören kann, ohne dass es mir langweilig wird.

Dieses Album bietet alles, wofür Camel stand. Perfektes und auf musikalisch hohem Niveau stehendes Zusammenspiel zwischen Gitarre und Keyboards, gleichzeitig Harmonie und Spannung vermittelnd. Nahtlos eingebundene, dynamische Rhythmussektion. Und vor allem richtige, auch live spielbare Musik!

„The Snow Goose” entstand aus einer Zusammenarbeit zwischen Camel, wobei Peter Bardens und Andrew Latimer für die Kompositionen zuständig waren, dem Komponisten David Bedford, der die wenigen Passagen mit dezenter Orchesterbegleitung arrangierte, und dem Produzenten David Hitchcock.

Das Album war Camels kommerziell erfolgreichstes. Es erreichte in den englischen Album Charts immerhin Nr. 22 und in den amerikanischen Nr. 162.

Im folgenden meine Lieblingssongs von „The Snow Goose”.

„Rhayader goes to Town”. Im bluesigen Mittelteil führt Andy Latimer die E-Gitarre an die Grenzen des Machbaren und bringt sie quasi zum Sprechen. Der stumme Schmerz des körperbehinderten Künstlers Rhayader ob seiner Isolation wird hörbar, ja fast fühlbar.

Die ineinander übergehenden „Preparation”, „Dunkirk” und „Epitaph” hörte ich das erste Mal auf AFN (sic!). In den Jahren 1976-78 gab es sonntags abends eine Sendung, in der anspruchsvolle Rockmusik gespielt wurde und wo man sehr gut auf Tonband aufnehmen konnte. Ich verzichtete dafür sogar auf Disco!

Die beiden erstgenannten Songs bestehen selbst jeweils wieder aus zwei Teilen. Im sphärischen zweiten Teil von „Preparation” hört man eine elegische Frauenstimme über zitternden, wabernden Synthesizer-Linien. Als ich noch nicht wusste, worum es bei diesen Songs ging (ich hatte bei AFN den Namen der Gruppe nicht richtig mitbekommen), stellte ich mir bei diesen Klängen immer einen fernen Planeten vor, mit bizarren Gebirgen, einem unwirklichen Himmel in unirdischen Farben. Tatsächlich handelt „Preparation” von den Vorbereitungen, die Rhayader trifft, um mit seinem kleinen Boot nach Dünkirchen in den Krieg zu segeln. Auch eine gefährliche Reise mit ungewissem Ausgang.

Im gleichnamigen „Dunkirk” beschreibt die Musik zunächst in hymnischer Weise, wie Rhayader todesmutig und heldenhaft bei der Evakuierung der englischen Truppen hilft. Dabei zieht die Schneegans immer ihre Kreise über ihm. Im zweiten Teil von „Dunkirk” setzen Camel in genialer Weise das Maschinengewehrfeuer und die kreischenden Sturzflüge der deutschen Stukas um. Das geht unter die Haut.

Letzlich wird eine Maschinengewehrsalve auch Rhayader zum Verhängnis. In „Epitaph” hört man wieder leicht abgewandelt die Synthesizer-Passagen aus „Preparation”, versetzt mit verzerrten Geräuschen, die das Treiben der Jolle auf den Wellen der Nordsee wiedergeben. Dazu läutet ein Totenglöcklein.

Im ergreifenden „La Princesse Perdue” gelingt es Camel in beeindruckender Weise, die schmerzlich-sehnsuchtsvolle Stimmung des vorletzten Abschnitts der Erzählung wiederzugeben, als die Schneegans ein letztes Mal zu Fritha zurückkehrt und die junge Frau die Seele des verstorbenen Rhayader in dem wild-schönen Vogel wiederzuerkennen glaubt.

Peter Eisenburger, 23. Mai 2010.
 

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Hochgeladen am 8. November 2021.

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