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Überwindet den Kapitalismus oder
Was wollen die Jungsozialisten?

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Mein erstes politisches Buch. Ich war 16.

Das war alles sehr aufregend für einen etwas intellektuell angehauchten jungen Mann wie mich.

Und so verheißungsvoll. Waren erst einmal der Kapitalismus und die Klassengesellschaft überwunden, würden alle Menschheitsprobleme gelöst werden, jedenfalls die schwerwiegenderen. Keine Ungerechtigkeit, kein Krieg, keine Ausbeutung. Eine Gesellschaft freier und gleicher Menschen – das versprach der Sozialismus. Es sollte allerdings ein demokratischer, freiheitlicher Sozialismus sein. Ein Widerspruch in sich. Das konnte ich aber damals nicht erkennen.

Eine ungeheure Faszination übten die verschiedenen Richtungen innerhalb (und außerhalb) der Jungsozialisten aus und die damit verbundene Terminologie. In gewisser Weise war das auch Geheimwissen, eine eigene Welt für sich.

Da gab es die „Antirevisionisten”, zu denen unter anderem Gerhard Schröder gehörte. Diese linkssozialistische Gruppierung um den „Göttinger Kreis” bestritt eine Reformierbarkeit des Kapitalismus und griff damit die alte Auseinandersetzung zwischen Rosa Luxemburg und dem Begründer des Revisionismus, Eduard „Ede” Bernstein, wieder auf.

Dann waren da die „Reformsozialisten”, zu denen etwa der spätere rheinland-pfälzische Ministerpräsident und Bundesminister Rudolf Scharping zählte, die an eine schrittweise „Überwindung” des Kapitalismus glaubten, ohne dass es zu einer krisenhaften Zuspitzung des Klassenkampfes, dem Sturz der Bourgeoisie und der revolutionären Machtergreifung der Arbeiterklasse kommen müsste. Es war das, was die Unidad Popular unter Führung des Präsidenten Salvador Allende, meines Helden, in Chile versuchte und was in einer Katastrophe mündete.

Der DKP-nahe „Stamokap”-Flügel hing der Theorie des „Staatsmonopolistischen Kapitalismus” an, entwickelt im Umfeld der Kommunistischen Partei Frankreichs. Danach waren die Staatsorgane und das monopolartig organisierte Kapital der entwickelten Industrienationen eine enge Verbindung eingegangen und übten die gemeinsame Klassenherrschaft aus. Das erschien damals abwegig. Sieht man sich die enge Verzahnung der Regierungsarbeit, der staatlichen Behörden, der Staatsmedien und der als „Big Pharma” bezeichneten multinationalen Pharmakonzerne in der „Corona”-Krise Anfang der 2020er Jahre an, verfolgt man, wie die amerikanischen Internet-Monopole die “Corona”-Opposition mundtot machen, in dem sie einfach ihre Kanäle löschen, kommt man noch mal ins Überlegen.

Die Theorie-Diskussionen wurden mit großem und teilweise erbittertem Ernst geführt. Man darf nicht vergessen, dass solche Meinungsverschiedenheiten über den richtigen Weg zum Sozialismus zu anderen Zeiten und in anderen Ländern tödliche Folgen hatten.

Den „Stamokap”-Vertretern gelang es ein einziges Mal – als ich schon nicht mehr Mitglied der SPD war – , einen Bundesvorsitzenden durchzubringen, weil sie sich den Streit zwischen den beiden anderen Fraktionen zunutze machten. Es war Klaus-Uwe Benneter, der kurz nach seiner Wahl 1977 aber bereits ausgeschlossen wurde, weil er die CDU als „Partei des Klassenfeindes” bezeichnet hatte. Später lenkte er ein, wurde  rehabilitiert und brachte es bis in hohe Parteiämter.

Benneters Nachfolger als Juso-Bundesvorsitzender wurde 1978 der „Antirevisionist” Gerhard Schröder, ebenfalls gelernter Rechtsanwalt. Typisch für den späteren Bundeskanzler schlug Schröder fortan einen pragmatischen Kurs der Verständigung mit dem Flügel der „Reformsozialisten” ein.

Es waren es diese flexiblen, nicht verbohrten Leute wie Schröder, Scharping oder die „rote Heidi” Wieczorek-Zeul, die 20 Jahre später, auf dem Höhepunkt ihrer Fähigkeiten und ihrer Kräfte die Spitzenpositionen in der Bundesrepublik Deutschland einnehmen sollten: Bundeskanzler, Ministerpräsident, Bundesminister, Oberbürgermeister einer Großstadt usw.

Aus den großen und manchmal verbissenen Theoretikern egal welcher Fraktion wurden eher Hochschullehrer, wie z. B. Detlev Albers, der theoretische Kopf des Stamokap-Flügels. Eine andere Gruppe der Stamokap-Dogmatiker um den Frankfurter Physik-Lehrer Rainer Eckert verließ die SPD und trat in die DKP ein. Eckert tat sich hier später als Hardliner im Kampf gegen den „rechten” Flügel der DKP hervor.

Im größeren Bild stand hinter den Jungsozialisten der frühen 70er Jahre die Wucht der „Studentenbewegung”, der „68er” und der „Außerparlamentarischen Opposition (APO)”, die sich auf den „Langen Marsch durch die Institutionen” gemacht hatten. Einen großen Teil trug es in die SPD, einen Teil in die „marxistisch-leninistische” DKP, wieder andere zu den maoistischen und trotzkistischen Splittergruppen und eine zahlenmäßig verschwindet kleine, aber für die Geschichte der BRD ungeheuer wirkungsmächtige Gruppe als terroristische „Rote Armee Fraktion („RAF”) in den „bewaffneten Kampf”.

Die kapitalistischen Verlage verdienten an der Vorbereitung des „Sozialismus” fleißig mit. Besonders taten sich dabei der Rowohlt und der Fischer Verlag hervor, jeweils durch ihre Taschenbuch-Tochtergesellschaften, die billig produzierte Massenware auf den Markt brachten, die von jungen Menschen wie mir verschlungen wurde. Auch Suhrkamp zierte sich nicht und war mit seiner hochwertiger hergestellten Reihe edition suhrkamp für die niveauvolle linke Theorie zuständig.

Alleine in der rororo-Reihe erschienen zwischen Juli 1971 und Juni 1974 (mindestens) vier Bücher nur über Juso-Politik:

Norbert Gansel (Hg.): Überwindet den Kapitalismus oder Was wollen die Jungsozialisten? rororo aktuell 1499. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 3. Auflage 31.–38. Tausend Juli 1972. Erstauflage September 1971. 189 Seiten. DM 3,80.

Der Thesenstreit um „Stamokap”. Die Dokumente zur Grundsatzdiskussion der Jungsozialisten. rororo aktuell 1662. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 1973. 203 Seiten. DM 3,80.

Rudolf Scharping / Friedhelm Wollner (Hg.): Demokratischer Sozialismus und Langzeitprogramm. Diskussionsbeiträge zum Orientierungsrahmen ‘85 der SPD. rororo aktuell 1713. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 1973. 157 Seiten. DM 3,80.

Volker Mauersberger (Hg.): Wie links dürfen Jusos sein? Vom Bürgerschreck zur Bürgerinitiative. rororo aktuell 1769. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 1974. 128 Seiten. DM 3,80.

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Hochgeladen am 14. Dezember 2021. Zuletzt aktualisiert am 3. Januar 2023.

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