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Die schönsten Bücher 1970

1970 markierte in der Außenpolitik der Bundesrepublik einen bedeutenden Wendepunkt. Die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt setzte zügig ihre “Neue Ostpolitik” um. Im März 1970 kam es zum berühmten Erfurter Treffen mit dem DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph. Brandt stand an einem Vormittag am offenen Fenster eines Hotels und Tausende DDR-Bürger jubelten ihm zu. Diese Offenheit und direkte Kommunikation war zu der Zeit äußerst ungewöhnlich. Willy Brandt notierte später in sein Tagebuch: “Der Tag von Erfurt. Gab es einen in meinem Leben, der emotionsgeladener gewesen wäre?”

Gegen Ende des Jahres wurden der Moskauer und der Warschauer Vertrag unterzeichnet, in denen die BRD 25 Jahre nach Kriegsende die Grenzen zu den östlichen Nachbarstaaten anerkannte.

Innenpolitisch spaltete sich die Studentenbewegung in mehrere legale Richtungen, die neue Organisationen gründeten oder in die SPD bzw. die Gewerkschaften eintrat, um sich auf den “Marsch durch die Institutionen” zu begeben, und einen linksradikalen, terroristischen Flügel. Dieser, die “Rote Armee Fraktion” (RAF), trat 1970 bei der gewaltsamen Befreiung Andreas Baaders erstmals auf und würde die Bundesrepublik in den kommenden Jahren mit prägen.

In der populären Musik geht mit der Auflösung der Beatles eine Epoche zu Ende, nämlich punktgenau die 60er.

In der Welt des Sports war das große Ereignis die Fußball-Weltmeisterschaft von Mexiko, wo es am 17. Juni 1970 im Halbfinale zu dem spektakulären “Jahrhundertspiel” Deutschland gegen Italien kam, das Italien nach dramatischem Spielverlauf mit 4:3 nach Verlängerung gewann.

Auf dem Buchmarkt der BRD erkennt man, wie die in den 60er Jahren geformte “Neue Linke” die kulturelle Hegemonie erringt (siehe unten), während die Verlage der DDR in geradezu verbiesterter Weise an ihren “marxistisch-leninistischen” Klassikern festhält.

Die fünfzig Bücher 1970
Stiftung Buchkunst, Frankfurt am Main


Der Einband des Heftes ist erstmals aufwendiger gestaltet.
Op-Art passt natürlich sehr gut in die Zeit. Es gibt sogar edle perforierte Vorsatzblätter. Auch von Papier und Druck her ist es bis jetzt der hochwertigste Jahresband.

Noch wichtiger ist eine andere Änderung. Es sind nun nicht mehr die „schönsten Bücher”, sondern die „fünfzig Bücher”, die ausgezeichnet werden.

Dahinter steckte eine Entwicklung, die schon seit 1968 sichtbar ist. Hans Peter Willberg von der Stiftung Buchkunst lässt denn auch im Vorwort die Katze aus dem Sack. Was sich schon in den Vorjahren unausgesprochen geändert hatte, wird nun offiziell vollzogen. „Schön” sei nur noch ein Merkmal neben anderen. Willberg nennt als weitere Kriterien: die Provokation (!), reine Funktionalität (ohne auf buchkünstlerische „Einheitlichkeit” Rücksicht zu nehmen) und schließlich die Überwindung (nicht des Kapitalismus, aber) der „gültigen Gesetze des Lesens”, weg „von einer linearen Bewegung der Augen und Gedanken hin zu einem komplexen Aufnehmen”. Diesen Anschauungen lag wohl der „neue Mensch” zugrunde, welcher der „Neuen Linken” vorschwebte.

Schon das erste ausgezeichnete Buch (Friedrich Achleitner: prosa, konstellationen, montagen, dialektgedichte, studien) hat auf etlichen Seiten einen völlig aufgelösten Satzspiegel, der keinerlei Form außer Chaos und kaum noch sinnvollen Inhalt hat.

Hier zeigt sich eine fatale Fehlentwicklung im bundesdeutschen Wettbewerb (die anderen drei Länder zogen zunächst nicht nach), die sich in den folgenden Jahrzehnten mit unterschiedlicher Intensität fortsetzte.

In dem Zusammenhang sei auf die personelle Zusammensetzung der Jury hingewiesen. Schon seit 1960 wurden im bundesdeutschen Wettbewerb – ganz im Gegensatz zu den anderen hier vorgestellten Ländern – die Mitglieder der Jury nicht mehr mit ihren beruflichen Funktionen genannt. An den Titeln sieht man aber im Jahrgang 1970, dass viele Dr. und Prof. vertreten sind, Anzeichen für eine praxisfremde Akademisierung des Wettbewerbs.

Im aktuellen Jahrgang 1970 sind allerdings im Gegensatz zur heutigen Zeit (2017) noch viele Werke vertreten, die nach klassischen Kriterien als „schön” oder „ästhetisch ansprechend” bezeichnet werden können.

Bei den Autoren und Illustratoren tauchen im Wettbewerb des Jahres 1970 bestimmte Namen zum ersten Mal auf, die in den folgenden Jahrzehnten den Literaturbetrieb der BRD bzw. des deutschsprachigen Raumes mit prägten: Elfriede Jelinek, Gertrude Degenhardt, Michael Mathias Prechtl.

Die vorliegende Auswahl wird deutlich radikaler, subversiver, auch graphischer und ungewöhnlicher. Sex spielt eine immer größere Rolle. Ein prämiertes Buch aus dem linken März Verlag zeigt graphische Darstellungen von kopulierenden Paaren.

Die zahlreich vertretenen Kinderbücher werden ungewöhnlicher, künstlerisch hochwertiger (eins wurde von Otmar Alt gestaltet, gleich zwei von Heinz Edelmann), großzügiger, freier gestaltet. Bei den Preisträgern finden sich sogar zwei Science-Fiction-Kinderbücher.

Eigenartig ist, dass es nur “die 50 Bücher” hieß, es aber nicht tatsächlich „50” waren. Es wird offen eingeräumt, dass eine Übereinstimmung auch gar nicht (!) angestrebt sei. 1970 wurden z. B. nur 41 Werke ausgezeichnet. 392 Bücher von 158 (!) Verlagen waren eingesandt worden.

Zehn Jahre später wurde die Namensänderung des Wettbewerbes übrigens wieder rückgängig gemacht, zumindest „nominell”.

Michael Brawne: Bibliotheken. Architektur und Einrichtung.

Michael Brawne:
Bibliotheken. Architektur und Einrichtung.

Michael Brawne (1925–2003) war einer der bekanntesten englischen Architekten des 20. Jahrhunderts. Er hatte auch eine Professur an der Universität Bath.

In dieser deutsch-englischen Publikation stellt er aber nicht seine eigenen Entwürfe vor, sondern diejenigen anderer Architekten aus mehreren Ländern (vor allem Skandinavien, USA, England und Deutschland), die vorbildliche Bibliotheksbauten errichtet haben. Dabei wird unterschieden zwischen öffentlichen, wissenschaftlichen und den großen Nationalbibliotheken

Vorbildlich, nein, grandios ist mal wieder die Aufmachung des Bandes, wie man sie vom Hatje-Verlag kennt. Es gibt sehr zahlreiche Abbildungen. Hier wurde phantastisch fotografiert und reproduziert, mit fein durchgezeichneten Grautönen. Hinzu kommen die vielen Grundrisse. Auch die Texte sind außerordentlich instruktiv.

Fragwürdig ist nur die Zweisprachigkeit der Publikation, die gleichzeitig auch bei Praeger in USA erschien. Zwei getrennte Editionen wären vielleicht besser gewesen.

Am interessantesten sind die vorgestellten öffentlichen Bibliotheken. Schön lässt sich die Entwicklung des Bibliothekswesens “ablesen”. Die fortschrittlichsten Bibliotheken verstanden sich in den 60er Jahren schon als sozialer Ort, der in ihrer Gemeinde eine wichtige Funktion einnahm.

“Kommunikation” heißt bei Brawne noch “Zwiesprache mit dem Buch”. Die Entwicklung der Bibliotheken zu Kultur- und Kommunikationszentren, die neben der Bücherausgabe (jetzt zunehmend auch Medienausgabe) eine vielfältige Kulturarbeit mit Ausstellungen, Theater, Lesungen, Filmvorführungen und auch der Einrichtungen eines Lesecafés als Treffpunkt anstrebten, sollte erst ab den 80er Jahren aufkommen.

Die Digitalisierung und der internetgestützte Zugriff auf Informationen von zu Hause oder unterwegs liegen noch weit in der Zukunft und sollten den Bibliotheken erneut eine Überprüfung und Weiterentwicklung ihrer Aufgaben abverlangen. Immerhin verweist Brawne im Ausblick auf damals schon erkennbare Entwicklungen, die den Einsatz von computergestützter Informationsvermittlung betreffen. Das letzte Bild des Buches zeigt das futuristische Videoterminal TCV 250 von Olivetti, entwickelt vom italienischen Designer und Architekten Mario Bellini.

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Thomas Bayrle: Feuer im Weizen

Thomas Bayrle war eine Art Shooting Star der modernen Kunst der Bundesrepublik. Mehrere documentas wurden mit seinen Arbeiten, die der Pop Art zugerechnet werden können, bestückt. Seine Spezialität waren technisch aufwendig hergestellte serielle Grafiken.

Thomas Bayrle war auch ein cleverer Geschäftsmann. “Feuer im Weizen” beinhaltete pornographische Grafiken, die man als “künstlerisch wertvoll” rechtfertigen und teuer verkaufen konnte. Die auf Doppelseiten abgebildeten, sehr phantasiereichen “Stellungen” werden von Galerien bis heute auch als großformatige Drucke angeboten.

Der linke März Verlag passte ideal zum Sujet dieser Grafiken. Verleger Jörg Schröder brachte eine Mischung von Sozialkritik und Sexualaufklärung auf den Markt, während in seinem zweiten Verlag “Olympia Press” reine Pornographie publiziert wurde.

Hans Stempel, Martin Ripkens und Heinz Edelmann: Andromedar SR 1

Hans Stempel, Martin Ripkens und Heinz Edelmann:
Andromedar SR 1

Ein Science-Fiction-Buch für Kinder. Das war ziemlich neu und überaus gelungen. Das Buch mit seinem Wortwitz und seinem skurrilen Humor ist ein großer Spaß auch für Erwachsene. Entscheidend für die Wirkung sind natürlich die Bilder von Heinz Edelmann, die er noch mal ganz im psychedelischen Stil seines großen Erfolges „Yellow Submarine” anfertigte. Heinz Edelmann war einer der bedeutendsten Grafik-Designer der 60er und 70er Jahre. Noch einige seiner Werke sollten im Wettbewerb der „schönsten deutschen Bücher” ausgezeichnet werden, wie z. B. schon in diesem Jahr als weiterer Band “Maicki Astromaus”.

Schade aber, dass nur jede zweite Doppelseite farbig ist. Musste so gespart werden? Bei Bilderbüchern war durchgängige Farbigkeit schon lange Standard.

Und es ist etwas sehr offensichtlich, wie sich das Texter-Pärchen in den ständig synchron tänzelnden Astronauten “Castrop und Rauxel” (alias “Castor und Pollux”) abbilden ließ.

Noch eine Besonderheit: gedruckt in Italien.

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Der Wettbewerb in der DDR

Die schönsten Bücher der DDR 1970

Weiterhin wird das Heft viersprachig aufgelegt (Deutsch, Russisch, Englisch, Französisch). Ob das sinnvoll war? Der eh schon umfangreiche Bericht der Jury nimmt so ein Drittel der ganzen Publikation ein.

Die wieder öffentlich tagende Jury gab sich diesmal besondere Mühe, weil die ausgewählten 51 Bücher (von 223 vorgelegten) auch zur internationalen Buchkunstausstellung 1971 nach Leipzig gingen. Es ist zu vermuten, dass bei diesem „Event” hauptsächlich die „sozialistischen Bruderstaaten” zugegen waren, da die Jury diesmal sage und schreibe 5 Werke von und über Lenin auswählte (+ ein weiteres bei den “Lobenden Erwähnungen)! Hinzu kam noch 2 mal Engels.

Neu war, dass nun auch Schutzumschläge von Büchern und Sprechschallplatten separat ausgezeichnet wurden (leider ohne Abbildung im Heft!).

Leider gab es seit 1968 keine Einzelbesprechungen mehr. Und inhaltlich stagnierte man weiterhin.

Unten vorgestellt werden zwei Bände, mit denen die DDR zu ihrem 25. Jahrestag ihre Leistungen auf dem Gebiet der Kunst vorzeigen will.

Weggefährten. 25 Künstler der Deutschen Demokratischen Republik

Weggefährten. 25 Künstler der Deutschen Demokratischen Republik

Bei den Künstlerportraits begegnet man natürlich überwiegend dem „sozialistischen Realismus” und einer Auswahl von staatstreuen Künstlern. Jedoch gibt es auch Abweichungen wie etwa der Stil von Wolfgang Mattheuer und es sind auch Künstler vertreten, die Konflikte mit den Staatsorganen hatten – so selbstbewusst war der VEB Verlag der Kunst offenbar schon.

Insgesamt erkennt man, wie wenig es eine Weiterentwicklung der DDR-Kunst gab. Das zeigt etwa der Vergleich mit dem 1969 in der BRD erschienenen, vergleichbaren Band „Neue Formen des Bildes”. Im Prinzip war man etwa auf dem Stand, den die europäische Kunst im Jahre 1900 erreicht hatte.

Da sagt nichts über die Qualität aus. Malen und Bildhauern konnten natürlich alle hier vorgestellten Künstler, und oft in hervorragender Manier. Fast allen gelang auch noch eine beachtliche Karriere und einige sind bis heute (2017) künstlerisch erfolgreich tätig.

Das Buch ist schön und sehr edel gemacht. Abwechselnd wurde weißes und feines graues Papier verwendet. Leider gibt es je Künstler in der Regel nur eine einzige und auch noch etwas blass gedruckte Farbseite. Wie knapp waren doch trotz des 25jährigen Jubiläums die Ressourcen der DDR. Das glichen die Macher des Buches mit einem außerordentlich geschickten und überlegten Aufbau aus.

Ungemein ausdrucksvoll sind die Schwarz-Weiß-Portraits der Künstler und faszinierend ist (über Wikipedia) der Vergleich mit heute. Man sieht bei aller unvermeidlichen Alterung: Ausdruck und Charakter bleiben.

Walter Funkat: Kunsthandwerk in der Deutschen Demokratischen Republik

Walter Funkat: Kunsthandwerk
in der Deutschen Demokratischen Republik

Alles, was im Band “Weggefährten” stimmt, stimmt hier nicht.

Es gibt keine vernünftige Struktur: die unterschiedlichen Handwerke gehen ohne irgendeine Trennung fließend ineinander über.

Der politische Anspruch, in der sozialistischen Gesellschaft der “Kunst des Volkes” ihren gebührenden Platz einzuräumen, verleitet den Verlag dazu, hochwertigste Kunst wie die vorgestellten Porzellanarbeiten in eine Reihe etwa mit den eher schlicht gehaltenen Tischdecken zu stellen.

Die Portraits der Künstler und Kunsthandwerker sind teils sehr ansprechend (bei der Arbeit oder posierend für den Fotografen), teils wurden aber auch auf lieblose Art einfache Passbilder oder schlecht gemachte Bildausschnitte genommen. Was gar nicht geht, ist, von den Legenden der unten auf der Seite angebrachten Portraits die Namen oben auf die Seitentitel zu ziehen.

Traurig ist es, ausgerechnet bei einem solchen Buch auf 400 durchgängig bebilderten Seiten nur 20 in Farbe zu drucken. Und das zum 25jährigen Jahrestag der DDR.

Trotz allem ist es sehr intereressant, wie vielfältig und kreativ die verschiedensten Bereiche von der Glasmalerei bis zur Teppichweberei ausgeprägt waren. Überraschend unter anderem, welch hoher Stellenwert in der DDR der Herstellung von Gobelinen beigemessen wurde.

Und eine hübsche Idee ist es immerhin, dem Buch als Lesezeichen einen
DIN A5 Druck beizulegen.

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Hochgeladen am 8. Juli 2017; zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2023.

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Die auf dieser Seite vorgestellten Bücher wurden geliefert von: Buch-Galerie Silvia Umla (Auswahlheft BRD), Antiquariat Beutler (Bibliotheken), Die Bücherretter (Bayrle), Antiquariat Wilder (Andromedar), Magister Tinius (Auswahlheft DDR),
Neusser Antiquariat (Weggefährten).

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