titel_alle_1960
titel_1960
titel_pe
Die schönsten deutschen Bücher 1960

1960. Das Jahr, das mathematisch gesehen zu den “50er Jahren” gehört, weil es diese beschließt, wird dennoch begrifflich in die “60 Jahre” gerechnet. Große Ereignisse, die im allgemeinen Gedächtnis haften bleiben, sollten erst in den nächsten Jahren für Furore sorgen, dann aber gewaltig. – Immerhin werfen einige Ereignisse der internationalen Politik ihre Schatten voraus. In den Vereinigten Staaten wird ein gewisser John F. Kennedy zum Präsidenten gewählt. Gary Powers wird mit der U-2 über der Sowjetunion abgeschossen und der Kalte Krieg verschärft sich. – In Deutschland sind die Wiedergutmachungs-Vereinbarungen, Treffen von Konrad Adenauer mit israelischen Spitzenpolitikern sowie das von Herbert Wehner im Bundestag verkündete Bekenntnis der SPD zur Westbindung beherrschende Themen. Die in diesem Jahr beschlossene Oberstufenreform mit ihrem neuen Kurssystem sollte in Zukunft das Leben von Millionen von Schülern beeinflussen. Dennoch wurde zum Beispiel in Rheinland-Pfalz erst im Jahr 1975 der letzte Abiturjahrgang (der des Chronisten) im Klassenverbund entlassen. –
Auf dem Buchmarkt kann man Anzeichen dafür erkennen, dass aufgrund des “Wirtschaftswunders” zunehmend Wohlstand entsteht. Die Bücher werden luxuriöser und sind vielfach in edlem Schwarz gehalten. Der Inhalt wird verspielter, experimenteller und man hat auch wieder genügend Steuereinnahmen, um sich der Denkmalpflege zu widmen und die geschlagenen Wunden des Bombenkrieges zu heilen bzw. sogar einen ersten Rückblick darauf zu veröffentlichen.

Die schönsten deutschen Bücher 1960

Die schönsten deutschen Bücher 1960 (Auswahlheft)

Das Heft wird weiter im bekannten Taschenbuchformat aufgelegt, diesmal in einem tristen Blaugrau.

Im Vorwort verteidigt Georg Kurt Schauer wortreich die Aufnahme von nicht im Buchhandel erhältlichen Werken in den Wettbewerb, ja erklärt sie geradezu als notwendig. Es hatte Kritik daran gegeben, dass diese Werke nicht dem Preiswettbewerb des Marktes ausgesetzt seien und entsprechend luxuriös hergestellt werden könnten. Tatsächlich machen in diesem Jahr “Bibliophile Drucke und Ausgaben, die sich nicht im Handel befinden” einen hohen Anteil von 11 von 50 prämierten Druckerzeugnissen aus.

Die bibliographischen Angaben zu den ausgewählten Büchern werden nun in strikt tabellarische Form gebracht, was zu vielen Doppel- und Dreifachnennungen führt. Bei den Abbildungen verzichtet man wieder auf Schattenwurf. Dafür werden neben räumlichen Abbildungen des gesamten Buches nun auch herausgetrennte oder in der Repro beschnittene Seiten plan abgebildet, was zu einem unruhigen Gesamteindruck führt.

Günther Grundmann: Großstadt und Denkmalpflege. Hamburg 1945 bis 1959.

Günther Grundmann: Großstadt und Denkmalpflege. Hamburg 1945 bis 1959.

Günther Grundmann (1892–1976) war selbst von 1950 bis 1959 Landesdenkmalpfleger von Hamburg. In diesem beeindruckenden Band klärt er zunächst die Grundlagen der Denkmalpflege in einer vom Krieg schwer gezeichneten Stadt. Im folgenden Dokumentationsteil schildert Grundmann die Umsetzung des Konzepts, welches stark auf Rekonstruktion beruhte, an ausgewählten Beispielen. Die vom Band umfassten 15 Jahre bezeichnen die Beseitigung der (innerhalb von Minuten und Stunden erfolgten!) Kriegsschäden.

Sehr lehrreich ist die wiedergegebene Auseinandersetzung zwischen Denkmalpflege auf der einen und Architekten sowie Städteplanern und Bauherren auf der anderen Seite. Aufschlussreich auch die Dokumentation von schon vor dem Krieg stattgefundenen Zerstörungen von Bausubstanz, unter anderem durch Verkehrsmaßnahmen und Brände.

Einen Rechtschreibfehler auf dem Titel eines in über tausend Exemplaren gedruckten und auch noch ausgezeichneten Buches sieht man selten (“Grosstadt”). Schon ein bisschen grotesk, dass er sich auf dem Umschlagrücken und Einbandrücken – nicht in der Titelei – wiederholt.

Ewald Mataré: Türen und Tore

Ewald Mataré: Türen und Tore

Bereits zum zweiten Mal nach 1955 ist der begnadete Künstler Ewald Mataré (1887–1965) in der Auswahlliste vertreten. Der Krefelder Scherpe-Verlag brachte einen Folioband im Überformat mit von Mataré gestalteten Eingangstoren von bedeutenden Kirchen heraus: Schwerpunkte der Darstellung sind der Kölner Dom, der Dom zu Salzburg und die Weltfriedenskirche in Hiroshima.

Stil und Ausdruckskraft der Arbeiten sind beeindruckend. Leider mangelt es den durchweg in Schwarz-weiß gehaltenen, seitenfüllenden Fotografien an Kontrast. Beurteilen konnte ich es nur anhand der 2. Auflage (ca. 1967). Angaben zur Foto-Technik wurden nicht gemacht.
 

1960_katzengeschrei

Katzengeschrei / in ernsten und heiteren Tonarten mit Holzschnitten von Günter Stiller

Der in 1000 Exemplaren aufgelegte bibliophile Druck für Geschäftsfreunde der Bauerschen Gießerei, Frankfurt, bietet auf nicht geschnittenem Büttenpapier eine vergnügliche Zusammenstellung von Katzenlyrik bekannter Dichter sowie Holzschnitte von Günter Stiller (1927–2018). Tatsächlich sind es die ingeniösen bis skurrilen Illustrationen des im Taunus geborenen Grafikers, die den besonderen Reiz des Buches ausmachen. 

Es ist erstaunlich, wie unbeschadet das hochwertige Papier die Jahrzehnte überstanden hat.

Peter Weiss: Der Schatten des Körpers des Kutschers

Peter Weiss: Der Schatten des Körpers des Kutschers
 
Wenn man den Namen “Peter Weiss” (1916–1982) liest, befindet man sich nicht mehr in den 50ern. Das umstrittene Hauptwerk dieses Autors, “Die Ästhetik des Widerstands”, sollte sogar erst in den 70ern erscheinen.

Das aus unerfindlichen Gründen prämierte Buch “Der Schatten des Körpers des Kutschers” (der Titel ist schon bezeichnend) lässt sich stilistisch als Hyperrealismus bezeichnen. Was den Figuren dieser Erzählung fehlt, ist eine gefühlsmäßige, menschliche Tiefe. Sie handeln wie Maschinen und werden auch so beschrieben. Die Sprache ist obszön und abstoßend.

Wie Siegfried Unseld in seinen Erinnerungen “Der Marienbader Korb” berichtet, wanderte das Manuskript 15 Jahre lang durch die Verlage, ohne irgendjemanden dazu bewegen zu können, es zu drucken. Auch Peter Suhrkamp habe es abgelehnt. Dann hätte sich aber die damalige intellektuelle Avantgarde des Verlages, nämlich Hans Magnus Enzensberger, Walter Höllerer und Unseld selbst, für den Text ausgesprochen. Als Buchgestalter habe man Willy Fleckhaus gewinnen können.

Der ließ sich schon einiges einfallen. Aber das Layout lässt sich bestenfalls als experimentell bezeichnen. Irritierend ist, dass die Jury alle seit jeher beschworenen Grundsätze des Satzspiegels fallen gelassen hat. Es gibt nur eine einzige, an den Rand gerückte, schmale Spalte. Absätze werden kaum gemacht. Ärgerlich auch die vielen Interpunktionsfehler, bei denen man sich fragt, ob Schlampigkeit oder “Kreativität” die Ursache ist.

Wahrscheinlich waren es ganz einfach der Schuber, der illustrierte Einband, der pechschwarze Umschlag und die netten paar Collagen, die großen Eindruck auf die Jury gemacht haben. Aber insgesamt doch ein trübes Machwerk.

Das Buch erschien als 3. Band in der Reihe “Tausenddruck”. Das vorliegende Exemplar trägt die Nummer 343.

Franz Graf von Pocci / Wanda Zacharias: Kasperls Reise über das Meer

Franz Graf von Pocci / Wanda Zacharias:
Kasperls Reise über das Meer


Tolles Bilderbuch, das alles hat, was ein Abenteuerbuch für Kinder braucht: furchterregende (aber nicht zu) Ungeheuer, freundliche Helfer und ein Happy-end.

Franz Graf von Pocci (1807–1876) war eine hochinteressante Künstlerpersönlichkeit aus dem 19. Jahrhundert und wird auch heute noch in Bayern durch mehrere Straßennamen und Denkmäler gewürdigt. Die letzte Ausstellung fand 2007 in der Bayrischen Staatsbibliothek statt. Die hier verwendeten Verse sind eine Art Kurzversion der bekannten Geschichte “Kasperl unter den Wilden”, zuerst erschienen 1853.

Die bekannte Illustratorin Wanda Zacharias (1931–2008) wendet Mischtechniken an und schafft es eindrucksvoll, den etwas angestaubten Sprachduktus aufzufrischen.
 

linie

Ein Blick nach Österreich

Die schönsten Bücher Österreichs 1960

Österreich hat in den 60ern und 70ern die mit Abstand schönsten Auswahlhefte. 1960 war man in der Querformatphase. Das Heft für 1960 kam wieder in Englischer Broschur, einem feinen, graphisch gestalteten Einband in hell-grauem Flieder und edlem, gestrichenen Papier, gestiftet von der “Österreichischen Papierverkaufsgesellschaft m. b. H.”.

Das Vorwort ist erneut denkbar knapp. Aus 62 einge-
reichten Titel wurden 12 Bücher ausgewählt. Vor allem unbefriedigende Bindung sowie auch schlechtes Papier und Defizite im Druck hätten die Auszeichnung weiterer Bücher verhindert.

Die aus Österreich gewohnte Bandbreite wurde um etwas ganz Neues erweitert: die Auseinandersetzung mit der Zeit des Faschismus.

Conny Hannes Meyer: Den Mund von Schlehen bitter

Conny Hannes Meyer: Den Mund von Schlehen bitter

Auch in Österreich begann die Aufarbeitung der
NS-Vergangenheit intensiver zu werden, was natürlich
gerade auf dem Buchmarkt seinen Ausdruck fand.

Conny Hannes Meyer (*1931) hatte als Kind in Wien den Holocaust überlebt. 1960 legte er sein erstes Buch vor, einen Band mit eindringlichen, betreten machenden Gedichten, in denen “das Grauen auftaucht, das Böse in die Städte einkehrt und das Land überschwemmt wird vom Schrecken” (Nachwort von Gerhard Fritsch). Die Lyrik von Meyer erinnert an Paul Celan oder auch an Nelly Sachs, deren “Fahrt ins Staublose” ein Jahr später in Deutschland erschien, erreicht aber nicht ganz deren Sprachgefühl.

Das Buch wurde vom Otto Müller Verlag liebevoll ausgestattet. Insbesondere überzeugen das quadratische Format, der Einband, dessen Grafik und schöne Kaschierung, der komplette, lichte Satzspiegel unter Verwendung der Schrift Gill Sans und das etwas gröbere, leicht mit kurzen Fasern durchsetzte Papier.

linie

...was macht die Schweiz?

Die schönsten Schweizer Bücher 1960

Die schönsten Schweizer Bücher 1960

Die Aufmachung des Katalogs eilte den anderen deutschsprachigen Staaten weiter voraus, aber wohl auch die Erfahrung mit den kaschierten Umschlägen.

Das sehr knappe Vorwort informiert über die Auswahl von 23 Titeln, davon “sieben Bücher aus den Verlagen der Westschweiz”, d. h. französischsprachig.

Die ausgewählten Werke seien auch “nicht alle frei von Fehlern” gewesen, seien aber “dem Wunschbild einer makellosen Gestaltung am nächsten” gekommen – eine Auswahlpolitik, wie man sie sich auch in anderen Staaten wünschen würde.

Karl Pawek: Totale Photographie

Karl Pawek: Totale Photographie

Karl Pawek (1906–1983) entwickelte ein Konzept zum Verständnis und zum Stellenwert der Photographie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bei allem was richtig und unabweisbar war und was sich auch in der Zukunft bestätigen sollte (“Bilderflut”), waren Paweks theoretisch-philosophische Ausführungen so aufgebläht und in Teilen verstiegen (und wirken auch sprachlich schlecht strukturiert), dass es selbst den jeder modernen Strömung gegenüber aufgeschlossenen Kultur-Redakteuren des “Spiegel” und der “Zeit” zu viel wurde.

“Die Zeit” urteilte 1973 über eine von Pawek organisierte Photo-Ausstellung: “nichts anderes als die indoktrinierende Darstellung der Welt, wie sie sich ihr Schöpfer zurechtgelegt hat”. Allerdings gebe es “hervorragende Photographien” zu sehen – und genauso ist es mit dem hier vorgestellten Band auch. Leider ist der Anteil der Texte viel zu hoch.

Was das Buch zu einem der “schönsten Bücher” macht, ist schwer erkenntlich. Einfaches Paperback mit minimalistischem Cover, der fragwürdige asymmetrische Satzspiegel, die nur durchschnittliche Reproduktionsqualität auf Buchdruckpapier, kaum Informationen zu den Photos, die manchmal zusammenhanglos aneinandergereiht sind...

Dennoch stellen die aus vielen Ländern stammenden Photos sehr eindrückliche Dokumente der Zeit um 1960 herum dar.

linie

Hochgeladen am 17. April 2015; zuletzt aktualisiert am 25. Juli 2023.

linie

Die auf dieser Seite vorgestellten Bücher wurden unter anderem geliefert von: Antiquariat Ballon + Wurm (Auswahlheft),
Antiquariat Buchlager Rothenburg (Peter Weiss), Antiquariat am Soonwald (Mataré), Antiquariat Jürgen Fetzer (Katzengeschrei),
Zentralantiquariat Leipzig (Denkmalpflege), Antiquariat Wegner (Auswahlheft Österreich). Georg Fritsch, Wien (Schlehen).

linie